Pierre Boulez

Pierre Boulez im Portrait

Revolutionärer Komponist und gefragter Dirigent: Über Pierre Boulez, der 2025 seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte.

Text: Ilja Stephan, 26. März 2025

 

Am 2. November 2001, um 6:30 Uhr in der Frühe, erzwang sich die Schweizer Polizei Zutritt zu einem Zimmer im noblen Fünfsterne-Hotel »Drei Könige« in Basel. Der Bewohner des Zimmers war ein distinguierter älterer Herr, international renommierter Dirigent und Komponist, ehemaliger Chefdirigent des New York Philharmonic und des BBC Symphony Orchestra, Gründer des Ensemble Intercontemporain und des Pariser Zentrums für elektronische Musik IRCAM, Träger höchster Ehrungen – vom japanischen Praemium imperiale bis zum deutschen Bundesverdienstkreuz – sowie gewiefter Strippenzieher im französischen Kulturleben. Und er stand seit fast drei Jahrzehnten auf der Liste potenzieller Gefährder der Schweizer Behörden. Die Eidgenossen nahmen dem Verdächtigen, Boulez, Pierre Louis Joseph, Alter 76, geboren am 26. März 1925 im französischen Montbrison, also für drei Stunden seinen Pass ab und hinderten den aktenkundigen Extremisten vorerst an der Weiterreise.

Pierre Boulez
Pierre Boulez © Roger Donovan

Ästhet und Provokateur

Damit bewiesen die Schweizer einen sicheren Instinkt für Unruhestifter – sie hatten einfach nur ästhetische und politische Radikalität durcheinandergebracht: »Sprengt die Opernhäuser in die Luft«, so lautete der Titel eines Interviews, das Boulez 1967 dem Magazin der »Der Spiegel« gegeben hatte. Tatsächlich war der Boulez dieser Jahre für seine extremen Ansichten und Urteile berüchtigt; seine Lust an Hinrichtungen mit dem verbalen Fallbeil hatte ihm den Spitznamen »Robespierre Boulez« eingetragen. Dem Übervater der Moderne, Arnold Schönberg, schickte er 1952 einige Monate nach dessen Ableben einen Nachruf mit dem Titel »Schönberg ist tot« hinterher, in dem er den Begründer der Zwölftonkomposition auch künstlerisch zur Leiche erklärte.

Komponisten, die nicht so komponierten wie er, Boulez, hielt der Robespierre der Avantgarde schlicht für »unnötig«. Und in jenem »Spiegel«-Interview, das ihn wohl ins Visier der Schweizer Behörden gerückt hatte, war der Kunstscharfrichter zu absoluter Hochform aufgelaufen: Der Kollege Hans Werner Henze sei ein »lackierter Friseur«, die Pariser Oper »voller Staub und Scheiße«, und am liebsten hätte der Jakobiner der Tonkunst seine eigene Kulturrevolution angezettelt: »Man sollte ruhig eine ganze Menge Rotgardisten importieren! Vergessen Sie nicht, die Französische Revolution hat auch sehr viel kaputtgemacht, und das war sehr gesund.«

Arnold Schönberg, Los Angeles, 1935
Arnold Schönberg, Los Angeles, 1935 © Arnold Schönberg Center

An einem aber war Boulez tatsächlich unschuldig, sein berühmtestes Zitat ist eine Erfindung der »Spiegel«-Reaktion: »Die teuerste Lösung wäre, die Opernhäuser in die Luft zu sprengen«, hatte er in Wirklichkeit auf die Frage nach der Zukunft der Institution Oper geantwortet. »Aber glauben Sie nicht auch, dass dies die eleganteste wäre?« Und in diesen zwei Sätzen steckt der Kern der Poetik des Dirigenten, Komponisten und Kulturaktivisten Boulez: Nur was wahrhaft radikal ist, kann heute noch relevant sein – aber bitte mit Stil. Pierre Boulez war in der Tat ein mit den Mitteln des ästhetischen Schocks operierender Terrorist, wohlgemerkt, ein eleganter Terrorist. 

Seine Attentate auf alles Alte und Überkommene waren konzeptionell und musikalisch-handwerklich perfekt durchstilisiert. Eine Dokumentation aus den 1960ern portraitiert Boulez in zwei schlaglichtartigen Szenen als Mischung aus asketischem Eremiten im Dienst der Kunst und stylischem Geschwindigkeitsjunkie: der Kühlschrank leer, aber vor der Haustür der eigenen Villa der neuste Sportwagen. Und eine andere Sequenz zeigt Käpt’n Boulez als Dirigenten beim BBC Symphony Orchestra, mit dem ihm eigenen präzisen Handkantenschlag dirigierend, ganz ohne Taktstock und Frack, dafür im Businesshemd und mit dunkel getönter Pilotenbrille. Extrem cool.

 

Pierre Boulez dirigiert das BBC Symphony Orchestra, 1966

Vom Revoluzzer zum Grandseigneur

Tatsächlich scheint es einen Widerspruch zu geben zwischen dem jungen Radikalen von einst und dem jovialen Grandseigneur, den die Sicherheitsorgane 2001 so unsanft aus dem Bett klingelten: Spätestens seit den 1970ern war Boulez ein Star in dem Kunstbetrieb, dessen Musentempel er eigentlich hatte sprengen wollen. Er leitete internationale Toporchester, dirigierte sogar im ehemaligen »Wohnzimmer des ›Führers‹« auf dem Grünen Hügel in Bayreuth, diskutierte öffentlichkeitswirksam mit Geistesgrößen wie Gilles Deleuze oder Michel Foucault, und Staatspräsident Pompidou installierte ihn als Leiter des Instituts für elektronische Musik IRCAM im futuristischen Kulturzentrum Centre Pompidou. Boulez war Establishment. War er sich deshalb untreu geworden? Wohl nicht, denn was immer er tat, stand radikal im Dienst des Neuen.

Kompromisslos Zeitgemäßes zu schaffen, war seine Religion. In Bayreuth dirigierte er 1976 den »Jahrhundert-Ring«; unter der Regie von Patrice Chéreau wurde Wagners Mythenwelt hier jenseits allen Bärenfellgermanentums soziologisch durchleuchtet. Der Skandal war gewaltig. Populäre Musik empfand der Snob Boulez als primitiv; aber mit dem Rock-Avantgardisten Frank Zappa nahm er eine Platte auf. Statt Opernhäuser in die Luft zu jagen, plante er später die Gattung Oper selbst zu sprengen. Als Librettisten für sein eigenes (nie realisiertes) Musiktheater-Projekt wählt er sich zielsicher Jean Genet, einen Romanautor, offen schwulen ehemaligen Stricher und Kleinkriminellen, der als aktuellste Verkörperung des Poetè maudite, des Außenseiter-Künstlers, gelten konnte. Boulez testete immer wieder die Schmerzgrenze aus.


 

Pierre Boulez & Frank Zappa

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Frank Zappa
Frank Zappa Frank Zappa © Philippe Gras

Der Komponist Boulez trat dabei zeitweilig hinter dem Dirigenten Boulez zurück. Die Werke seiner ersten Schaffensperiode ab Mitte der 1940er sind ebenso flamboyant wie die Schriften des Theoretikers der neu entstehenden seriellen Musik brillant sind. Doch Anfang der 1960er geriet der Schaffensstrom ins Stocken. Als Boulez sich dann als Komponist zurückmeldete, hatte er eine neue Methode für sich gefunden, er griff nun gerne auf eigene, frühere Werke zurück, die er nach Art der Surrealisten wie ein Objet trouvé, ein Fundstück, betrachtete, das er weiterentwickeln und wuchern lassen konnte. Boulez dachte in Möglichkeiten: Jede noch so kleine Gruppe von Noten war für ihn ein Reservoir virtueller Gestalten und Strukturen, die es zu realisieren galt.

Zum 100. Geburtstag

Dem Komponisten Boulez widmet die Elbphilharmonie in den Monaten Mai und Juni 2025 einen Schwerpunkt, der wichtige Stationen seines Weges abbildet: Chronologisch am Anfang steht dabei die Zweite Klaviersonate von 1947/48. Hier kann man dem jungen Boulez dabei zuhören, wie er die klassische Tradition zur Explosion bringt. »Den Klang pulverisieren« lautet eine sehr bezeichnende Spielanweisung. Das Werk lehnt sich äußerlich an Beethovens monumentale Hammerklavier-Sonate op. 106 an; musikalisch ist es ein Gestöber von Tonzellen und Motivtrümmern, das so haarsträubend dicht und komplex ist, dass die Pianistin der Uraufführung beim Anblick der Noten in Tränen ausgebrochen sein soll. – Was der Komponist sicher als Bestätigung seiner ästhetischen Position verstanden haben wird, denn Kunst war für ihn »organisiertes Delirium«.

Seinen Durchbruch erlebte Boulez mit der Kammerkantate »Le Marteau sans maître« von 1954/55. Hier wird überdeutlich, wie sehr der Komponist von der Ästhetik der Surrealisten geprägt war. Antoine Artauds »Theater der Grausamkeiten« hatte ihn ebenso fasziniert wie die Gedichte von René Char, dem Textdichter des »Marteau«, in dessen Poetik Gewalt und Kreativität unauflöslich miteinander verschränkt sind. Die Musik selbst ist eine einzigartige Mischung von Anklängen an afrikanische und asiatische Musik ausgeführt im abstrakt-seriellen Idiom der 1950er und von delikatester Klangsinnlichkeit. Der Komponistenkollege György Ligeti erkannte im »Marteau« denn auch mit dem Scharfblick des Eifersüchtigen eine »wollüstige Betätigung einer ästhetisierenden Grausamkeit, ausgeführt von einem wirklich aristokratischen Folterknecht mit Pinzette statt dem Hackmesser.«


 

Le Marteau sans maître

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Pierre Boulez
Pierre Boulez Pierre Boulez © Phillipe Gontier

Alle Möglichkeiten seines Materials zu entwickeln, wurde für den Komponisten Boulez in seiner späteren Schaffensphase zum beherrschenden Gedanken. Ausgangspunkt für etliche Werke war eine einseitige Skizze mit dem für einen künstlerischen Bombenleger einschlägigen Titel: »explosante-fixe«. Splitter und Schrapnelle dieser Ladung finden sich unter anderem in zwei Gedenkkompositionen aus den 1970er- und 80er-Jahren: in »Mémoriale«, das dem Flötisten Lawrence Beauregard zugedacht ist, und in »Rituel« für Orchester, das Boulez dem Andenken des Dirigenten und Komponisten Bruno Maderna widmete. Die Herkunft des Titels »explosante-fixe« führt dabei auf die Spur des Poeten, Freundes und Liebenden Pierre Boulez. Er entnahm ihn dem Buch »L‘Amour fou« (Verrückte Liebe) des surrealistischen Dichters André Breton: »Konvulsive Schönheit wird erotisch-verschleiert sein, explosiv-fixiert, magisch-umständlich, oder sie wird gar nicht sein.« Dank Pierre Boulez wurde sie Musik.

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