Wo soll man anfangen bei dieser Sinfonie, über die wirklich alles gesagt zu sein scheint und die sich doch nicht in Worte fassen lässt? Mit der Leonard Bernstein einst die deutsche Wiedervereinigung untermalte (mit zwei Konzerten in Ost- und West-Berlin einen Monat nach dem Fall der Mauer), aus der die Europahymne hervorging, die 2001 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde, die sogar Eingang in die Popkultur fand (auf grandios-schockierende Art in Stanley Kubricks »A Clockwork Orange«; auf denkbar platteste Weise in Form des Schlagers »A Song of Joy« vom spanischen Sänger Miguel Ríos), nach deren Umfang einst die Länge der CD ausgerichtet wurde (nämlich 74 Minuten, so lang dauerte Furtwänglers Aufnahme von 1951 aus Bayreuth) und die immer dann erklingt, wenn es etwas zu feiern gibt (etwa an Silvester oder bei Konzerthauseröffnungen) – und die damit stets Gefahr läuft, zur leeren Hülle zu verkommen und schon beim After-Concert-Drink in Vergessenheit zu geraten?
Schon Claude Debussy musste 1901 einsehen, dass der Sockel, auf den Beethovens Neunte Sinfonie von der Nachwelt gehoben wurde und auf dem sie noch immer steht, ihr gleichzeitig das Genick brach:
»Man hat sie in einen Nebel von hohen Worten und schmückenden Beiworten gehüllt. Sie ist – neben dem ›Lächeln der Mona Lisa‹, dem mit seltsamer Beharrlichkeit das Etikett ›geheimnisvoll‹ anhaftet – das Meisterwerk, über das am meisten Unsinn verbreitet wurde. Man muss sich nur wundern, dass es unter dem Wust von Geschreibe, den es hervorgerufen hat, nicht schon längst begraben liegt.«
Beethoven in der Elbphilharmonie
Geschichte eines Welterfolgs
Die Historie von Beethovens Neunter Sinfonie geht weit über ihren bloßen Kompositionsprozess hinaus und umspannt mehrere Jahrzehnte. Bereits als junger Komponist in seiner Heimatstadt Bonn begeisterte sich Beethoven für die Ode des nur elf Jahre älteren Dichters Friedrich Schiller. »Lasst uns die Worte des unsterblichen Schiller singen!« trug er in eines seiner Skizzenbücher ein. Und 1793 schrieb der Bonner Rechtsgelehrte und Beethoven-Freund Bartholomäus Fischenich an Charlotte Schiller, er könne »von einem jungen Mann berichten, dessen musikalische Talente allgemein gerühmt werden und den nun der Kurfürst nach Wien zu Haydn geschickt hat.«
»Er wird Schillers ›Freude‹, und zwar jede Strophe, bearbeiten. Ich erwarte etwas Vollkommenes, denn so viel ich ihn kenne, ist er ganz für das Große und Erhabene.«
Bartholomäus Fischenich

Bis sich Beethoven dieser Aufgabe tatsächlich gewachsen sah, verstrichen allerdings noch 30 weitere Jahre, und auch die Form sollte sich ändern. 1817 trieb ihn der Gedanke um, eine Sinfonie mit vokalen Elementen zu komponieren, doch erst aus dem Jahr 1822 findet man in seinem Skizzenbuch den Eintrag »Finale: Freude schöner Götterfunken«. Nun also stand die Idee eines Chorfinales mit Schillers Ode fest.
Beethovens Bekenntnis
Beethovens Entscheidung, für den Schlusschor seiner Sinfonie Schillers Gedicht auszuwählen, war also weder einer zufälligen Laune noch musikalischen Erwägungen geschuldet; sie war vielmehr das Bekenntnis zu einem Text, der ihn ein Leben lang begleitete. Diese intensive Beschäftigung des Komponisten mit der Ode steht kurioserweise im Widerspruch zu deren eigener Entstehung: Es handelt sich »nur« um ein Gelegenheitsgedicht eines 26 Jahre jungen Dichters, geschrieben im Überschwang im Sommer 1785, das niemals für die große Öffentlichkeit bestimmt war, sondern für einen Freund und dessen Freimaurerloge. Zum Glück widersetzte sich Beethoven Schillers Vorgabe. Und so fanden »zwei Leidgeprüfte und Schmerzerfahrene« zusammen, die »sich Trost zusingen in einem Gemeinschaftswerk über das, was in ihrer beider Leben gefehlt hat: die Freude«, wie es Dieter Hildebrandt zusammenfasst.

Einmal zur Komposition entschlossen, ging alles plötzlich ganz schnell; Beethoven stellte seine Sinfonie im Jahr 1823 erstaunlich zügig fertig. Für das Finale hob er die zentralen Aussagen des eigentlich neun Strophen (plus je einen Refrain) umfassenden Gedichts heraus und ordnete sie in neuer Reihenfolge an. Anfang 1824 lag die Sinfonie fertig vor, am 7. Mai 1824 konnte sie im Wiener Theater am Kärntnertor zusammen mit der Ouvertüre zu »Die Weihe des Hauses« und Teilen der »Missa solemnis« uraufgeführt werden. Die Reaktionen der Zuhörer waren enthusiastisch, wobei man dem völlig ertaubten Beethoven erst bedeuten musste, sich zum wild applaudierenden Publikum umzudrehen, wie Augenzeugen berichteten. Die Aufführung wurde am 23. Mai wiederholt, und schon bald erklang die Sinfonie in zahlreichen anderen Städten, darunter auch in London, wo das Werk ursprünglich von der Philharmonic Society in Auftrag gegeben worden war.
Im Gegensatz zum Publikum waren sich die Kritiker nicht durchwegs einig. So monierte Giuseppe Verdi später, das Finale sei »schlecht gesetzt«, während Richard Wagner in der Neunten »das menschliche Evangelium der Kunst der Zukunft« sah. Lange Zeit sollte es das einzige Werk bleiben, dass neben seinen Opern im Bayreuther Festspielhaus gespielt werden durfte.
Eine neue Welt durch Musik
Bei all der Fokussierung auf das Chorfinale, mit dem Beethoven die Grenzen der eigentlich rein instrumentalen Gattung Sinfonie nachhaltig sprengte, wird gern vergessen, dass diesem noch drei weitere Sätze vorausgehen. Und auch sie stellten Beethovens bisheriges Schaffen in den Schatten: »Kein Kopfsatz, den man sich monumentaler, kein Scherzo, das man sich wilder und bacchantischer denken könnte, kein Adagio, dem ein größeres Maß an Beseeltheit und Versunkenheit innewohnte«, fasst es Martin Geck im »Beethoven-Handbuch« zusammen. Und in der Tat, allein wie Beethoven zu Beginn des ersten Satzes die Musik irgendwo zwischen Dur und Moll im Pianissimo quasi aus dem Nichts entstehen lässt, gehört zu den großartigsten Eingebungen des Komponisten überhaupt.
»Freude schöner Götterfunken« :Eröffnung der Elbphilharmonie (2017)
Doch spätestens bei dem Versuch, den vierten Satz zu beschreiben, biss sich die Musikwissenschaft die Zähne aus. »Die Form des Finales von Beethovens Neunter Sinfonie gibt es nicht und kann es nicht geben«, resignierte etwa der amerikanische Forscher James Webster. Besonders treffend beschrieb es bereits ein Kritiker der Uraufführung:
»Das leidenschaftliche, mit allen Elementen und Kräften der Musik kämpfende und ringende Wesen des Finales ist in der Tat nicht beim ersten Anhören aufzufassen. Beethovens Genie hat sich hier an gar keine Schranken gekehrt, sondern sich seine ganz eigene Welt geschaffen, und sich darin mit einer so gewaltigen Kraft und Freiheit bewegt, dass man sieht, wie ihm die bisherige Welt zu klein erscheint, und er sich eine mit ganz neuen Gestalten bauen musste.«
James Webster
Beethoven selbst schien sich bei der Komposition des Finales zunächst unsicher zu sein, ob die Einbeziehung des gesungenen Wortes wirklich die richtige Entscheidung war. Zumindest fertigte er zusätzliche Skizzen zu einem rein instrumentalen Finale an – obwohl sich allein die über 200 Takte umfassende, rein orchestrale Einleitung wie ein eigener Satz ausnimmt. Besonders die Frage, wie sich der Einsatz der Singstimmen mit der berühmten Freude-Melodie nach dem einleitenden Orchesterteil überzeugend gestalten ließe, trieb ihn um. Er entschied sich schließlich für die Einfügung eines Rezitativs, für das er selbst den Text schrieb. Mit den Worten »O Freunde, nicht diese Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudenvollere«, wird nun die vorangehende bedrohliche, schrill-dissonante »Schreckensfanfare« (Richard Wagner) zurückgewiesen und dem Eintritt der Freudenhymne der Weg bereitet. Und was dann folgt, spricht für sich selbst.
Text: Simon Chlosta, Stand: 3.3.2022
Beethoven wie zum ersten Mal hören
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