»Beethoven, radikal und aufregend anders« titelte das Hamburger Abendblatt nach Jordi Savalls Konzerten in der Laeiszhalle im Oktober 2021: »Immer wieder durfte man staunend miterleben, was so alles in der Partitur steht und sonst nie zu hören ist. Savall ermöglicht der Musik ein ganz anderes, freies Atmen.« Schöner hätte man Beethovens Geburtstag also nicht nachfeiern können: In drei Konzerten an zwei Abenden widmeten sich der katalanische Dirigent und sein Kammerorchester Le Concert des Nations dem sinfonischen Schaffen des berühmten Komponisten. Die Aufführung von Beethovens 6. Sinfonie steht ab dem 5. Dezember als Konzert-Stream zur Verfügung.
Er wolle »Beethovens Sinfonien, die so bekannt sind und allzu oft überladen aufgeführt werden, ihre Energie zurückzugeben«, erklärte Savall – eine Aufgabe, die niemand besser meistern könnte als der akribische Musikforscher mit seinem auf Alte Musik spezialisierten Kammerorchester. Übrigens: Auch Savall selbst darf man noch gratulieren – im August 2021 feierte der Meister seinen 80. Geburtstag.
Im Stream: Jordi Savall dirigiert Beethovens 7. Sinfonie in der Laeiszhalle.
Die Künstler
Jordi Savall – Dirigent

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Über Jordi Savall
»Jordi Savall steht ein für die unendliche Vielfalt eines gemeinsamen kulturellen Erbes«, würdigte die britische Tageszeitung »The Guardian« den katalanischen Dirigenten und Gambisten. Seit mehr als 50 Jahren macht Savall die Welt mit außergewöhnlichen musikalischen Werken bekannt und bewahrt sie davor, in Vergessenheit zu geraten. Seine Konzerte, aber auch sein Wirken als Pädagoge, Forscher und Initiator kultureller Projekte haben wesentlich zu einer neuen Sichtweise auf Alte Musik beigetragen.
Durch seine unermüdliche Erforschung unbekannten Repertoires und seine historisch fundierte, interkulturelle Perspektive auf große Menschheitsthemen genießt er auf der ganzen Welt einen ausgezeichneten Ruf. Er versteht Musik auch als Mittel der Völkerverständigung und wurde von der Europäischen Union zum »Botschafter für den kulturellen Dialog« und von der Unesco zum »Künstler für den Frieden« ernannt.
Jordi Savalls Repertoire reicht von der Musik des Mittelalters über die Renaissance bis hin zu Barock und Klassik, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf der mediterranen und iberischen Tradition liegt. Um seinem Anspruch gerecht zu werden, gründete er gemeinsam mit seiner 2011 verstorbenen Ehefrau, der Sängerin Montserrat Figueras, die Ensembles Hespèrion XXI (1974), La Capella Reial de Catalunya (1987) und Le Concert des Nations (1989).
Mehr als 230 Einspielungen hat Savall bisher aufgenommen. Sie erhielten zahlreiche Auszeichnungen wie einen Grammy und mehrere Midem Classical Awards und International Classical Music Awards. Sein Schaffen wurde außerdem mit den höchsten nationalen und internationalen Ehrungen gewürdigt. So erhielt er den französischen Titel »Chevalier dans l’ordre national de la Légion d’honneur« sowie die »Goldmedaille für besondere Verdienste« der katalanischen Landesregierung. Für sein Lebenswerk wurde er 2012 mit dem dänischen Musikpreis »Léonie Sonning« ausgezeichnet.
In Hamburg war Jordi Savall in den vergangenen Jahren regelmäßig zu Gast. So illustrierte er 2019 die Geschichte Venedigs musikalisch, dokumentierte 2017 die kulturellen Folgen des Sklavenhandels und zeichnete 2015 ein Panorama der europäischen Konflikte rund um den Dreißigjährigen Krieg.
Le Concert des Nations

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Über das Ensemble
1989 gründeten Jordi Savall und Montserrat Figueras das Orchester Le Concert des Nations, um ihr Projekt »Canticum Beatae Virginis« zu realisieren. Dazu vereinten sie Musiker mehrheitlich aus romanischen oder lateinamerikanischen Ländern, die in der Lage waren, auf historischen Instrumenten ein vielseitiges Repertoire vom Barock bis hin zur Romantik zu interpretieren. Es handelt sich durchweg um anerkannte Spezialisten der sogenannten »historisch informierten Aufführungspraxis«. Das Ensemble hat es sich zur Aufgabe gemacht, konsequent den ursprünglichen Geist der historischen Werke zu respektieren, sie aber zugleich für heutige Hörer lebendig zu interpretieren. Der Ensemblename selbst verweist auf das Werk »Les Nations« des Barock-Komponisten François Couperin.
1992 erweiterte Le Concert des Nations noch einmal sein Repertoire und debütierte mit Vicente Martín y Solers Oper »Una cosa rara« im Orchestergraben des Théâtre des Champs-Elysées in Paris, am Gran Teatre del Liceu in Barcelona und am Auditorio Nacional in Madrid. Auch die folgende Opernproduktion von Claudio Monteverdis »L΄Orfeo« wurde an renommierten Bühnen aufgeführt, neben Madrid und Brüssel auch im Wiener Konzerthaus. Außerdem brachte die BBC das Werk auf DVD heraus.
Zu weiteren Produktionen von Le Concert des Nations zählen Antonio Vivaldis »Farnace« im Teatro de la Zarzuela in Madrid und »Il Teuzzone«, halb-szenisch aufgeführt an der Opéra Royal du Château de Versailles. Diese Opern sowie »Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz« von Joseph Haydn sind ebenfalls auf CD und/oder DVD erschienen. Die umfangreiche Diskografie des Orchesters wurde vielfach prämiert.
KÜHE IM FAGOTT :Über Beethovens Sinfonie Nr. 6 »Pastorale«
»Pastoral-Sinfonie, oder: Erinnerung an das Landleben. Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei.« So lautet der vollständige Titel von Beethovens Sechster Sinfonie, und der Komponist legte größten Wert darauf, dass er auf dem Deckblatt der Partitur vollständig abgedruckt wurde. Offenbar ahnte er bereits, auf welch dünnes Eis er sich mit einer so konkreten Überschrift begeben hatte, die er im Nachsatz quasi gleich wieder relativierte. Tatsächlich sah er sich einer ästhetischen Grundsatzfrage gegenüber, die noch lange nach seinem Tod für hitzige Debatten sorgen sollte. Die Frage ist: Muss Musik immer für sich stehen, als abstraktes Kunstwerk zum Selbstzweck? Oder sollte Musik etwas Konkretes ausdrücken, ein Gefühl, eine Szenerie, eine Romanhandlung?
Naturbetrachtungen
Dass Beethoven bei der Komposition tatsächlich ganz konkrete Bilder vor Augen hatte, zeigen schon die Satzüberschriften. Wo sonst nur italienische Tempobezeichnungen zu lesen sind, ist hier von einer »Szene am Bach« die Rede, vom »Lustigen Zusammensein der Landleute«, einem »Gewitter« und einem »Hirtengesang«. Und nicht nur das: All diese Dinge kann man in der Musik wirklich hören. So beginnt der zweite Satz mit dem leisen Murmeln einer Quelle, die sich nach und nach zu einem munteren Bächlein entwickelt – eine frühe Blaupause für Smetanas »Moldau«. Claude Debussy lästerte später, die Fagotte stellten dann wohl die Kühe dar, die aus dem Bach tränken. Gegen Ende des Satzes imitiert Beethoven sogar ornithologisch korrekt die Rufe von Nachtigall (Flöte), Wachtel (Oboe) und Kuckuck (Klarinette).

Auch die derben Bauerntänze der Landleute lassen sich bestens heraushören. Nach dem schmetternden Einsatz der Hörner leistet sich Beethoven einen typischen Insider-Scherz: Die Oboe setzt mit ihrer tänzerischen Melodie leider einen Schlag zu früh ein und simuliert so einen Amateur-Dorfmusikus.
Plötzlich aber reißt die fröhliche Tanzmusik jäh ab. Ein Gewittersturm zieht auf. Im Streichertremolo braut sich Unheil zusammen, Blitze zucken und die Pauke lässt Donnerschläge durch den Saal rollen. Aus meteorologischer Sicht ist Beethoven damit Vivaldis »Vier Jahreszeiten« weit voraus, und Wagners »Fliegender Holländer« ist nicht mehr weit. Schließlich beruhigen sich die Naturgewalten und weichen dem Lied eines erleichterten Hirten.
Beethoven in der Natur
Beethoven selbst war ein großer Naturliebhaber. In der Stadt muss damals ein infernalischer Lärm von Handwerkern, Pferdehufen und Marktschreiern geherrscht haben, vor dem er nur zu gerne in die Umgebung von Wien flüchtete. »Mein Dekret: nur auf dem Lande bleiben«, notierte er einmal. »Mein unglückseliges Gehör plagt mich hier nicht. Süße Stille des Waldes!« Kein Wunder, dass er das Bedürfnis verspürte, seinen Empfindungen und Beobachtungen in dem ihm eigenen Metier Ausdruck zu verleihen, der Musik.
Vielleicht ist Beethoven in seinem Mitteilungsbedürfnis dabei ein wenig über das Ziel hinausgeschossen – wie jemand, der seine Freunde mit einem ganzen Schwall von Urlaubsbildern »beglückt«. Insofern mutet auch sein Versuch, die Satztitel rückwirkend zu relativieren, leicht verschämt an: »Man überlässt es dem Zuhörer, die Situationen auszufinden. Wer jemals eine Idee vom Landleben bekommen hat, kann sich ohne viele Überschriften selbst denken, was der Autor will.«
Der Schlüssel zu diesem Dilemma könnte im ersten Satz der Sinfonie liegen. Schon sein Titel »Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande« zeigt ja, dass hier kein Naturlaut porträtiert wird, sondern eine menschliche Emotion. Die Musik ließe sich auch als allgemein positiv gestimmt beschreiben, ohne Bezug zum Landleben. Sie können also selbst entscheiden, ob Sie Beethovens musikalische Urlaubspostkarten als solche hören möchten oder als Spiegel eigener Erinnerungen und Gefühle.
Text: Clemens Matuschek
Zurück zum Original :Jordi Savall über die Grundlagen seines Beethoven-Zyklus
Den ursprünglichen organischen Klang des Orchesters wiederzufinden, der Beethovens Vorstellung entsprach – dieser fundamentale Gedanke steht im Zentrum unseres Beethoven-Zyklus. Daraus folgte eine ganze Reihe von Vorüberlegungen, die unsere Neuinterpretation inspiriert, ja sogar bedingt haben.
»Wir haben sowohl Beethovens Handschriften als auch die bei den ersten Aufführungen verwendeten Partituren und Einzelstimmen studiert und verglichen.«
Um alle Angaben zu Lautstärke und Artikulation überprüfen zu können, war es nötig, die existierenden Originalmanuskripte zu kennen. Eine der wichtigsten Entscheidungen betraf die Frage der von Beethoven geforderten Tempi. Um die Aufführung seiner Kompositionen abzusichern, hat er selbst äußerst präzise Metronomangaben hinterlassen – die, wie er schrieb, »zu meinem Bedauern oft missachtet werden«. Trotz seiner eigenhändigen Angaben vertreten leider bis heute viele Musiker und Dirigenten die Ansicht, dass sie in der Praxis nicht durchführbar seien, oder sie verachten sie gar als antikünstlerisch.
Die Größe des Orchesters
Damit hängt die Besetzungsgröße zusammen. Wie Beethoven setzen wir je nach Sinfonie insgesamt 55 bis 60 Musiker ein. Etwa zwei Drittel von ihnen sind Mitglieder des Orchesters Le Concert des Nations, von denen uns viele schon seit 1989 begleiten. Etwa ein Drittel sind junge Musiker aus ganz Europa und anderen Kontinenten, die in einem Auswahlverfahren bewiesen haben, dass sie zu den besten ihrer Generation gehören.
Charakteristisch dabei ist das Verhältnis zwischen Bläsern und Streichern. Schon in einer zeitgenössischen Rezension über die Premiere von Beethovens Erster Sinfonie am 2. April 1800 heißt es: »Die Blasinstrumente waren gar zu viel angewendet.« Der französische Musikwissenschaftler und Beethoven-Biograf André Boucourechliev folgerte daraus schon 1963: »Das Gleichgewicht der Instrumentengruppen wird bei heutigen Interpretationen oft missachtet. Die Hypertrophie der Streichergruppe ist eine der hartnäckigsten Neigungen des ›Sinfonismus‹. Viele übersetzen den Ausdruck ›Sinfonie‹ in ›Orchester mit 120 Ausführenden‹. Beethovens Zeitgenosse Ignaz Moscheles dagegen berichtete, dass Beethoven vor allem ›Verwirrung‹ fürchtete und nicht mehr als etwa 60 Interpreten für seine Sinfonien haben wollte.« Dieses neue Gleichgewicht ist für uns essenziell. Daher haben wir uns für eine ähnliche Orchestergröße entschieden, wie sie Beethoven bei den Aufführungen seiner Sinfonien zur Verfügung stand: 18 Bläser und 32 Streicher.
Energie zurückgeben
Das Geheimnis von Beethovens Genie drückt sich in der Sicherheit des schöpferischen Aktes aus, so wie sie durch sein Werk hindurchscheint. Diese Energie, die viele Nachfolger überrascht hat, war nie übertragbar, weil der Schaffensakt bei Beethoven häufig die Form eines Kampfes annimmt. Er ist, um schaffen zu können, oft gegen sich selbst angetreten.
»Beethovens Werk ist das Resultat eines schöpferischen Vorgangs, der eine neue Kunstauffassung bezeugt.«
Das Paradox, mit dem wir heute konfrontiert sind, hat der Dirigent und Musikwissenschaftler René Leibowitz bereits vor 40 Jahren dargestellt. Er erinnert an »den privilegierten Platz, den Beethovens Werk in unserem Musikleben einnimmt« (und der sich in Umfragen und Aufführungsstatistiken bis heute regelmäßig bestätigt). Und er fährt fort: »Man wäre versucht daraus abzuleiten, dass Publikum und Interpreten ein tiefes Bewusstsein für die musikalischen Werte beweisen, die in Beethovens Werk eine ihrer höchsten Ausdrucksweisen gefunden haben. Allerdings gelangt man dann unvermeidlich zu dem Gedanken, dass der Fall Beethoven etwas äußerst Verstörendes hat. Möglicherweise gibt es keinen anderen Komponisten, der so kontinuierlich falschen und inkongruenten Interpretationstraditionen unterworfen wurde. Traditionen, die so weit gehen, den ganzen Sinn der Werke zu deformieren und zu verbergen – von Werken, die eine ungeheure Popularität genießen. Man scheint etwas anzubeten, was man nur durch Deformationen kennt, und man deformiert systematisch etwas, was man anbetet.«
Unsere Recherchen und die daraus folgende Interpretation berücksichtigen all diese Grundfragen – nicht um ihrer selbst Willen, sondern um unser Hauptziel zu erreichen: Beethovens Sinfonien, die so bekannt sind und allzu oft überdimensioniert und überladen aufgeführt werden, ihre Energie zurückzugeben. Das Resultat ist eine revolutionäre Brillanz, Artikulation, Ausgeglichenheit und Tonstärke und eine von der spirituellen Kraft der eigenen Botschaft getragenen Dramaturgie. Aus dieser revolutionären Kraft erwächst ein dauernder Wachzustand des schöpferischen Geistes, in dem sich die Jugend der Werke nie erschöpft.
Text: Jordi Savall