Im Oktober 2021 präsentierten Jordi Savall und sein Kammerorchester Le Concert des Nations ihren Beethoven-Zyklus in der Laeiszhalle. Er wolle »Beethovens Sinfonien, die so bekannt sind und allzu oft überladen aufgeführt werden, ihre Energie zurückzugeben«, erklärte der katalanische Dirigent. Und so ließen der akribische Musikforscher und sein auf Alte Musik spezialisiertes Ensemble das Hamburger Publikum Beethoven mit neuen Ohren hören. »Radikal und aufregend anders!«, jubelte das Hamburger Abendblatt. Neben der 6. Sinfonie steht nun auch die Aufführung der 7. Sinfonie als Konzert-Stream zur Verfügung.
Im Stream: Jordi Savall dirigiert Beethovens 6. Sinfonie »Pastorale« in der Laeiszhalle.
Die Künstler
Jordi Savall – Dirigent

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Über Jordi Savall
»Jordi Savall steht ein für die unendliche Vielfalt eines gemeinsamen kulturellen Erbes«, würdigte die britische Tageszeitung »The Guardian« den katalanischen Dirigenten und Gambisten. Seit mehr als 50 Jahren macht Savall die Welt mit außergewöhnlichen musikalischen Werken bekannt und bewahrt sie davor, in Vergessenheit zu geraten. Seine Konzerte, aber auch sein Wirken als Pädagoge, Forscher und Initiator kultureller Projekte haben wesentlich zu einer neuen Sichtweise auf Alte Musik beigetragen.
Durch seine unermüdliche Erforschung unbekannten Repertoires und seine historisch fundierte, interkulturelle Perspektive auf große Menschheitsthemen genießt er auf der ganzen Welt einen ausgezeichneten Ruf. Er versteht Musik auch als Mittel der Völkerverständigung und wurde von der Europäischen Union zum »Botschafter für den kulturellen Dialog« und von der Unesco zum »Künstler für den Frieden« ernannt.
Jordi Savalls Repertoire reicht von der Musik des Mittelalters über die Renaissance bis hin zu Barock und Klassik, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf der mediterranen und iberischen Tradition liegt. Um seinem Anspruch gerecht zu werden, gründete er gemeinsam mit seiner 2011 verstorbenen Ehefrau, der Sängerin Montserrat Figueras, die Ensembles Hespèrion XXI (1974), La Capella Reial de Catalunya (1987) und Le Concert des Nations (1989).
Mehr als 230 Einspielungen hat Savall bisher aufgenommen. Sie erhielten zahlreiche Auszeichnungen wie einen Grammy und mehrere Midem Classical Awards und International Classical Music Awards. Sein Schaffen wurde außerdem mit den höchsten nationalen und internationalen Ehrungen gewürdigt. So erhielt er den französischen Titel »Chevalier dans l’ordre national de la Légion d’honneur« sowie die »Goldmedaille für besondere Verdienste« der katalanischen Landesregierung. Für sein Lebenswerk wurde er 2012 mit dem dänischen Musikpreis »Léonie Sonning« ausgezeichnet.
In Hamburg war Jordi Savall in den vergangenen Jahren regelmäßig zu Gast. So illustrierte er 2019 die Geschichte Venedigs musikalisch, dokumentierte 2017 die kulturellen Folgen des Sklavenhandels und zeichnete 2015 ein Panorama der europäischen Konflikte rund um den Dreißigjährigen Krieg.
Le Concert des Nations

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Über das Ensemble
1989 gründeten Jordi Savall und Montserrat Figueras das Orchester Le Concert des Nations, um ihr Projekt »Canticum Beatae Virginis« zu realisieren. Dazu vereinten sie Musiker mehrheitlich aus romanischen oder lateinamerikanischen Ländern, die in der Lage waren, auf historischen Instrumenten ein vielseitiges Repertoire vom Barock bis hin zur Romantik zu interpretieren. Es handelt sich durchweg um anerkannte Spezialisten der sogenannten »historisch informierten Aufführungspraxis«. Das Ensemble hat es sich zur Aufgabe gemacht, konsequent den ursprünglichen Geist der historischen Werke zu respektieren, sie aber zugleich für heutige Hörer lebendig zu interpretieren. Der Ensemblename selbst verweist auf das Werk »Les Nations« des Barock-Komponisten François Couperin.
1992 erweiterte Le Concert des Nations noch einmal sein Repertoire und debütierte mit Vicente Martín y Solers Oper »Una cosa rara« im Orchestergraben des Théâtre des Champs-Elysées in Paris, am Gran Teatre del Liceu in Barcelona und am Auditorio Nacional in Madrid. Auch die folgende Opernproduktion von Claudio Monteverdis »L΄Orfeo« wurde an renommierten Bühnen aufgeführt, neben Madrid und Brüssel auch im Wiener Konzerthaus. Außerdem brachte die BBC das Werk auf DVD heraus.
Zu weiteren Produktionen von Le Concert des Nations zählen Antonio Vivaldis »Farnace« im Teatro de la Zarzuela in Madrid und »Il Teuzzone«, halb-szenisch aufgeführt an der Opéra Royal du Château de Versailles. Diese Opern sowie »Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz« von Joseph Haydn sind ebenfalls auf CD und/oder DVD erschienen. Die umfangreiche Diskografie des Orchesters wurde vielfach prämiert.
Orgie des Rhythmus :Über Beethovens Sinfonie Nr. 7
Wollten Sie nicht schon immer mal einem Komponisten bei der Arbeit über die Schulter blicken? Dann können Sie entweder nach Bonn ins Beethovenhaus fahren und dort die mehr als hundert erhaltenen Seiten studieren, die Beethoven mit Skizzen für seine Siebte Sinfonie vollgeschrieben hat. Oder, noch besser: Sie spitzen Ihre Ohren. Der Anfang dieser Sinfonie kommt nämlich einem Besuch in der Werkstatt des Komponisten gleich.
Die Musik gehört zunächst den Holzbläsern, die sich bedächtig vorantasten. Dann schleicht sich in den Streichern eine Sechzehntelbewegung ein, die ruhelos die Tonleiter hinauftrippelt. Doch nach gut drei Minuten erreicht die Musik einen toten Punkt, einen einzelnen Ton, den Flöten und Geigen ratlos wiederholen. Was nun? Beethovens Lösung: Er belebt den Ton, indem er ihn bewegt, ihm einen Puls verleiht. Das Resultat dieser kompositorischen Herzdruckmassage ist ein fröhlich hüpfender Rhythmus im 6/8-Takt.
Rhythmische Charaktere
Damit ist auch gleich das Thema dieser Sinfonie definiert: Rhythmus! Für Melodien oder komplizierte Strukturmodelle interessiert sich Beethoven in diesem Werk weit weniger als sonst, weniger jedenfalls als für die rhythmische Komponente, für die pure Energie der Vortriebskraft. Die Sinfonie stellt in dieser Hinsicht eine radikale Weiterentwicklung seiner Fünften dar. Hatte Beethoven dort den Kosmos des gesamten Werkes aus einem einzelnen, ebenfalls rhythmisch profilierten Motiv gewonnen (»Tatatataaa«), so ist es hier das Prinzip des Rhythmischen an sich, das das Werk beherrscht. Der erste Satz wird von der Präsenz des tänzerischen 6/8-Taktes so vollständig dominiert, dass sich noch nicht einmal ein melodisches Gegenthema durchsetzt. Der Musikwissenschaftler Romain Rolland sprach in diesem Zusammenhang gar von einer »Orgie des Rhythmus«.
Auch der zweite Satz reduziert sich auf ein rhythmisches Modell, das einem Trauermarsch gut zu Gesicht stünde, hätte Beethoven den Satz nicht flott mit »Allegretto« überschrieben. Formal handelt es sich um eine Folge von Variationen – aber eben nicht über ein Thema, sondern über einen Rhythmus. Zweimal wird das düstere Moll durch einen Abschnitt in Dur unterbrochen, doch auch in diesen Phasen klingt der Kernrhythmus im Bass durch. Schon bei der Uraufführung musste dieser Satz wiederholt werden, und vor einigen Jahren erfuhr er als Untermalung der Schlüsselszene im oscarprämierten Film »The King’s Speech« neue Popularität.

Unnötig zu sagen, dass auch das wilde Scherzo ganz auf die Kraft des Rhythmischen setzt. Für Ruhe sorgt hier lediglich der zweimal eingeschobene B-Teil, der auf einem alten österreichischen Wallfahrtslied basiert. Am Schluss gönnt sich Beethoven noch einen kleinen Scherz: Er tut so, als setze sich der Wechsel zwischen A- und B-Teil unendlich fort – nur um den Satz mit einigen kräftigen Hieben zu beenden. »Als ob der Komponist die Feder auf den Tisch wirft«, empfand es Robert Schumann.
Der letzte Satz schließlich droht von seiner tänzerischen Energie fast erdrückt zu werden; Beethovens Lust an knackigen Rhythmen und treibenden Offbeats ist bis ins Exzessive gesteigert. Oft nimmt er sich noch nicht einmal Zeit dafür, unterschiedliche Abschnitte durch geschmeidige Übergänge zu verbinden. Stattdessen lässt er die Musik lieber mit immer neuem Schwung einsetzen, oft auf unvermuteten Harmoniestufen.
Betrunken oder göttlich?
Die Wiener Uraufführung 1813 wurde ein voller Erfolg. Beethoven hatte das Konzert als Benefizgala zugunsten von Kriegsinvaliden deklariert; am selben Abend erklang auch seine Schlachtensinfonie Wellingtons Sieg zum ersten Mal. Alle Welt wollte bei dieser musikalischen Feier von Napoleons Niederlage dabei sein, und so konnte Beethoven auf die wohl prominenteste Orchesterbesetzung aller Zeiten zurückgreifen: Komponisten wie Antonio Salieri, Louis Spohr, Giacomo Meyerbeer, Johann Nepomuk Hummel und Ignaz Moscheles spielten mit. Beethoven äußerte denn auch »mit innigster Rührung«, die Aufführung sei »das Nonplusultra der Kunst« gewesen.
Spätere Generationen waren dagegen geteilter Meinung. Clara Schumanns Vater Friedrich Wieck mutmaßte, die Sinfonie könne »nur in betrunkenem Zustand« komponiert worden sein, und der offenbar noch zarter besaitete Carl Maria von Weber befand gar, Beethoven sei »reif fürs Irrenhaus«. Auf offene Ohren stieß die Sinfonie dagegen bei Richard Wagner. Er bezeichnete sie als »Verherrlichung des Tanzes« – da Beethoven hier die elementare Kraft des Rhythmischen zu etwas Göttlichem geadelt habe.
Text: Clemens Matuschek
Zurück zum Original :Jordi Savall über die Grundlagen seines Beethoven-Zyklus
Den ursprünglichen organischen Klang des Orchesters wiederzufinden, der Beethovens Vorstellung entsprach – dieser fundamentale Gedanke steht im Zentrum unseres Beethoven-Zyklus. Daraus folgte eine ganze Reihe von Vorüberlegungen, die unsere Neuinterpretation inspiriert, ja sogar bedingt haben.
»Wir haben sowohl Beethovens Handschriften als auch die bei den ersten Aufführungen verwendeten Partituren und Einzelstimmen studiert und verglichen.«
Um alle Angaben zu Lautstärke und Artikulation überprüfen zu können, war es nötig, die existierenden Originalmanuskripte zu kennen. Eine der wichtigsten Entscheidungen betraf die Frage der von Beethoven geforderten Tempi. Um die Aufführung seiner Kompositionen abzusichern, hat er selbst äußerst präzise Metronomangaben hinterlassen – die, wie er schrieb, »zu meinem Bedauern oft missachtet werden«. Trotz seiner eigenhändigen Angaben vertreten leider bis heute viele Musiker und Dirigenten die Ansicht, dass sie in der Praxis nicht durchführbar seien, oder sie verachten sie gar als antikünstlerisch.
Die Größe des Orchesters
Damit hängt die Besetzungsgröße zusammen. Wie Beethoven setzen wir je nach Sinfonie insgesamt 55 bis 60 Musiker ein. Etwa zwei Drittel von ihnen sind Mitglieder des Orchesters Le Concert des Nations, von denen uns viele schon seit 1989 begleiten. Etwa ein Drittel sind junge Musiker aus ganz Europa und anderen Kontinenten, die in einem Auswahlverfahren bewiesen haben, dass sie zu den besten ihrer Generation gehören.
Charakteristisch dabei ist das Verhältnis zwischen Bläsern und Streichern. Schon in einer zeitgenössischen Rezension über die Premiere von Beethovens Erster Sinfonie am 2. April 1800 heißt es: »Die Blasinstrumente waren gar zu viel angewendet.« Der französische Musikwissenschaftler und Beethoven-Biograf André Boucourechliev folgerte daraus schon 1963: »Das Gleichgewicht der Instrumentengruppen wird bei heutigen Interpretationen oft missachtet. Die Hypertrophie der Streichergruppe ist eine der hartnäckigsten Neigungen des ›Sinfonismus‹. Viele übersetzen den Ausdruck ›Sinfonie‹ in ›Orchester mit 120 Ausführenden‹. Beethovens Zeitgenosse Ignaz Moscheles dagegen berichtete, dass Beethoven vor allem ›Verwirrung‹ fürchtete und nicht mehr als etwa 60 Interpreten für seine Sinfonien haben wollte.« Dieses neue Gleichgewicht ist für uns essenziell. Daher haben wir uns für eine ähnliche Orchestergröße entschieden, wie sie Beethoven bei den Aufführungen seiner Sinfonien zur Verfügung stand: 18 Bläser und 32 Streicher.
Energie zurückgeben
Das Geheimnis von Beethovens Genie drückt sich in der Sicherheit des schöpferischen Aktes aus, so wie sie durch sein Werk hindurchscheint. Diese Energie, die viele Nachfolger überrascht hat, war nie übertragbar, weil der Schaffensakt bei Beethoven häufig die Form eines Kampfes annimmt. Er ist, um schaffen zu können, oft gegen sich selbst angetreten.
»Beethovens Werk ist das Resultat eines schöpferischen Vorgangs, der eine neue Kunstauffassung bezeugt.«
Das Paradox, mit dem wir heute konfrontiert sind, hat der Dirigent und Musikwissenschaftler René Leibowitz bereits vor 40 Jahren dargestellt. Er erinnert an »den privilegierten Platz, den Beethovens Werk in unserem Musikleben einnimmt« (und der sich in Umfragen und Aufführungsstatistiken bis heute regelmäßig bestätigt). Und er fährt fort: »Man wäre versucht daraus abzuleiten, dass Publikum und Interpreten ein tiefes Bewusstsein für die musikalischen Werte beweisen, die in Beethovens Werk eine ihrer höchsten Ausdrucksweisen gefunden haben. Allerdings gelangt man dann unvermeidlich zu dem Gedanken, dass der Fall Beethoven etwas äußerst Verstörendes hat. Möglicherweise gibt es keinen anderen Komponisten, der so kontinuierlich falschen und inkongruenten Interpretationstraditionen unterworfen wurde. Traditionen, die so weit gehen, den ganzen Sinn der Werke zu deformieren und zu verbergen – von Werken, die eine ungeheure Popularität genießen. Man scheint etwas anzubeten, was man nur durch Deformationen kennt, und man deformiert systematisch etwas, was man anbetet.«
Unsere Recherchen und die daraus folgende Interpretation berücksichtigen all diese Grundfragen – nicht um ihrer selbst Willen, sondern um unser Hauptziel zu erreichen: Beethovens Sinfonien, die so bekannt sind und allzu oft überdimensioniert und überladen aufgeführt werden, ihre Energie zurückzugeben. Das Resultat ist eine revolutionäre Brillanz, Artikulation, Ausgeglichenheit und Tonstärke und eine von der spirituellen Kraft der eigenen Botschaft getragenen Dramaturgie. Aus dieser revolutionären Kraft erwächst ein dauernder Wachzustand des schöpferischen Geistes, in dem sich die Jugend der Werke nie erschöpft.
Text: Jordi Savall