Text: Regine Müller
Das ehrwürdige Wiener Antiquariat Inlibris hat jüngst einen Brief von Christoph Willibald Gluck angeboten. Das auf den 29. November 1776 datierte Autograf, angepriesen als ein »Dokument des Gluck’schen Geschäftssinns«, war an Franz Kruthoffer gerichtet, seines Zeichens Sekretär an der Kaiserlichen Botschaft zu Paris, zugleich Glucks Privatsekretär und Freund. Gluck sagt Kruthoffer in dem Schreiben zu, den Honorarvorstellungen seines Verlegers Peters entgegenkommen zu wollen, behält sich dafür aber etliche Autorenexemplare vor und besteht darauf, aus dieser Zusage keinen Präzedenzfall für künftige Honorarverhandlungen konstruieren lassen zu wollen. Außerdem klagt der Komponist über die Flut unverlangt zugesandter Opernlibretti und verbietet Kruthoffer, weitere anzunehmen: »Dan ich werde grausamb desentwegen bombardirt«.
Der eilig hingeworfene Brief skizziert schlaglichtartig Persönlichkeit und Lebensumstände seines Autors: So schreibt ein selbstbewusster, viel beschäftigter Komponist, der vom Erfolg verwöhnt ist und dessen Geschäftstüchtigkeit ihn zu einem wohlhabenden Mann gemacht hat. Der Brief ist interessant, aber, obgleich noch nie gedruckt, keine wissenschaftliche Sensation – und wohl auch kein Fall für Bietergefechte in internationalen Auktionshäusern. Auch deshalb, weil die Nachwelt sich bis heute viel mehr für Zeugnisse aus bewegtem, krisenhaftem Künstlerleben interessiert als für Einblicke in eine gewisse Normalität, wie sie für Glucks Leben die Regel war. Gluck gilt gemeinhin als Glückskind; er kam ohne existenzielle Nöte und Verwerfungen aus, sein Privatleben scheint stabil gewesen zu sein, von dramatischen Schaffenskrisen ist nichts bekannt.

Womöglich ist es also Glucks Normalität und damit seine mangelnde Eignung zum Ideal des romantischen Genie-Künstlers, die ihn irgendwie doch in der zweiten Reihe der Komponisten verharren lässt. Aber ist es nicht ungerecht, einen ausnahmsweise mal nicht von Geldnöten geplagten Komponisten ein bisschen langweilig zu finden, auch wenn er in Wahrheit eine hochkomplexe Figur war? Tatsächlich ist Glucks Biografie die Geschichte eines rasanten und äußerst zielbewussten Aufstiegs.
Von der Oberpfalz nach Mailand
Geboren wurde Christoph Willibald Gluck am 2. Juli 1714 bei Neumarkt in der Oberpfalz als Sohn eines Försters. Die Familie zog 1717 nach Nordböhmen; in Eisenberg (heute Jezeří) soll der hochbegabte Knabe auf der Jesuitenschule ersten musikalischen Unterricht erhalten haben. Förster wollte er nicht werden, bereits als Teenager verließ er um 1731 heimlich das Elternhaus und wanderte auf Umwegen in Richtung Wien; Kost und Logis erspielte er sich auf der Straße und in Kirchen. In Prag begann er ein Studium der Logik und Mathematik, das er jedoch bald abbrach, um stattdessen am reichen Musikleben der böhmischen Hauptstadt aktiv teilzunehmen.
Vermutlich 1734 kam Gluck in Wien an. Und schon 1737 zog es ihn weiter nach Mailand, wo er, inzwischen 23 Jahre alt, bei Giovanni Battista Sammartini Komposition studierte und 1741 seine erste Oper, »Artaserse«, zur Uraufführung bringen konnte. Ihr sollten bis ans Ende seines Lebens 1787 rund 50 weitere Opern folgen, dazu ein Dutzend anderer Bühnenwerke wie Ballette und Pasticci. Natürlich schrieb Gluck auch einiges an Orchester-, Kirchen- und Kammermusik, dennoch war früh klar: Seine Leidenschaft galt der Oper – die er auf dem Höhepunkt seines Schaffens so kühn wie folgenreich reformieren sollte.
Ruhelos auf Reisen
Zunächst aber setzte Gluck seine ruhelose Reisetätigkeit fort. Nach Mailand besuchte er Venedig und Turin. Er war im mitteleuropäischen Raum unterwegs, reiste nach Hamburg, Kopenhagen, Dresden, Prag und Neapel, sog wie ein Schwamm nationale und lokale musikalische Gepflogenheiten sowie unterschiedliche Personalstile auf. Musiker waren schon damals äußerst reisefreudig, und das nicht nur aus purer Neugierde. Als Freiberufler waren sie stets auf der Suche nach einträglichen Aufträgen im bereits internationalisierten Opern- und Musikbetrieb; unter den ständig sich wandelnden Macht-Konstellationen der überwiegend feudalen Auftraggeber waren Flexibilität und Wendigkeit gefragt.
Besonders prägend für Glucks Entwicklung wurde sein Aufenthalt in London 1745/46, wo er auch Georg Friedrich Händel begegnete. Durch die Erfahrungen in England veränderte sich insbesondere sein Umgang mit der menschlichen Stimme, was später zur Basis seiner Opernreform wurde. Der britische Musikhistoriker Charles Burney berichtet in seinem 1772/73 ins Deutsche übersetzten »Tagebuch seiner Musikalischen Reisen« wiederholt von Begegnungen mit Gluck: »Er sagte mir, England habe ihn darauf gebracht, bey seinen dramatischen Kompositionen sich auf das Studium der Natur zu legen.« Angesichts der Londoner Erfolge Händels habe er »den Geschmack der Engländer« studiert: »und da er fand, daß die planen und simplen Stellen die meiste Wirkung auf sie [die Zuhörer] thaten: so hat er sich seit der Zeit beständig beflissen, für die Singstimme mehr in den natürlichen Tönen der menschlichen Empfindungen und Leidenschaften zu schreiben, als den Liebhabern tiefer Wissenschaft, oder grosser Schwierigkeiten zu schmeicheln«.

»England hat Gluck darauf gebracht, sich auf das Studium der Natur zu legen.«
Komponierender Ritter
Glucks eigentlicher Aufstieg zu einem der erfolg- und einflussreichsten Opernkomponisten der Zeit begann in Wien, wohin er 1748 zurückkehrte und wo er mit »La Semiramide riconosciuta« noch im selben Jahr erstmals eine Oper im Auftrag des kaiserlichen Hofs auf die Bühne brachte.
1750 wurde er bereits als ein »famoser music-compositor« und »in gutten Ruff stehender virtuos, auch gutter oeconomus und von guter Aufführung« bezeichnet. Und konnte als solcher mit 36 Jahren die 18-jährige Kaufmannstochter Maria Anna Bergin heiraten, die, früh verwaist, nicht nur eine sehr ansehnliche Mitgift in die Ehe einbrachte, sondern auch wirtschaftlichen Sachverstand und beste gesellschaftliche Beziehungen. Sie begleitete ihren Mann auf vielen Reisen, und als das Paar im Laufe der Jahre seinen Wohlstand mit Immobiliengeschäften mehrte, trat meist Frau Gluck als Käuferin auf. Zudem war ihre Schwester eine enge Kammerfrau von Kaiserin Maria Theresia, was Gluck weiteren Zugang zu höchsten Kreisen erleichterte.
1754 erlangte der nun 40-Jährige mit der Festoper »Le Cinesi« endgültig die Gunst des Kaiserhofs: Er wurde Hofkapellmeister Maria Theresias und zum Musiklehrer ihrer Kinder ernannt, die 1765 seine Oper »Il Parnaso confuso« aufführten. Da war er durch Papst Benedikt XIV. bereits zum »Ritter vom goldenen Sporn« erhoben worden, kurz: Viel höher konnte man als bürgerlicher Künstler auf der Karriereleiter im vorrevolutionären Wien kaum steigen.

Großer Opernreformator
In Wien feierte man vor allem seine Opern; aber auch das »Don Juan«-Ballett von 1761 sorgte für Furore, denn es war sein erster Schritt zur großen Opernreform, wie er sie schon im Jahr darauf mit »Orfeo ed Euridice« endgültig umsetzen sollte. Ausgehend von der in England entdeckten Natürlichkeit und der Wirkung schlichter Melodien, verabschiedete sich Gluck von der Nummernoper mit ihrem starren Schema von Rezitativ und Arie und ihrer Vorliebe für virtuose Schnörkel – zugunsten des durchkomponierten Dramas, in dem nichts die Handlung aufhalten durfte: »Schluss mit den kalten Schönheiten der Konvention, an denen die Tonsetzer festzuhalten sich verpflichtet fühlten. Die wahre Aufgabe der Musik ist es, der Dichtung zu dienen, ohne ihre Aktionen zu unterbrechen oder zu hemmen!«
Auf Einladung seiner ehemaligen Schülerin Marie Antoinette konnte Gluck seine Reformideen zwischen 1774 und 1779 auch in Paris präsentieren. Die französische Oper dieser Zeit war, weit mehr noch als die Oper in Wien, vor allem ein großes Spektakel mit viel Tanz und technischem Aufwand. Gluck rüstete in den sechs Opern, die er in Paris schrieb, den Pomp systematisch ab, um Raum für die dramatische Handlung zu schaffen. Zum größten Triumph wurde dabei die 1779 uraufgeführte »Iphigénie en Tauride«.
Dmitri Tcherniakovs Inszenierung von Glucks »Iphigénie en Aulide« und »Iphigénie en Tauride« beim Festival von Aix-en-Provence
Kenntnis des Herzens
Glucks Reformideen wurden später für Beethoven ebenso bedeutsam wie für Giuseppe Verdi und Richard Wagner, die großen Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts; Wagner bearbeitete 1847 gar Glucks »Iphigenia in Aulis« aus dem Jahr 1774. Auch Hector Berlioz würdigte Gluck: »Begabt mit einer außerordentlichen Empfindungskraft, mit seltener Kenntnis des menschlichen Herzens, verwandte er sich ausschließlich darauf, den Leidenschaften eine wahre, tiefe und kraftvolle Sprache zu verleihen, und auf dieses einzige Ziel hin setzte er alle musikalischen Mittel ein.«
Bereits Glucks Zeitgenosse Charles Burney empfand dessen Tonsprache als allerhöchster Vergleiche würdig: »da giebt er den Leidenschaften solche herzdurchdringende Sprache, solche Farben, daß man an ihm zugleich den Dichter, den Mahler und den Tonkünstler erkennt. Er scheint in der Musik ein Michel Angelo zu seyn«.
»Ich bin ein bisserl ein Faullenzer heut morgen.«
Christoph Willibald Gluck
Und Gluck als Mensch? Von Zeitgenossen wird seine Persönlichkeit als leicht aufbrausend beschrieben, ansonsten scheint er überwiegend beliebt gewesen zu sein. Allerdings war sein Perfektionismus gefürchtet, wie Burney zu berichten weiß: »Er ist ein strenger Zuchtmeister, und eben so furchtbar als Händel zu seyn pflegte, wenn er ein Orchester dirigirte; dennoch versicherte er mich, daß er seine Brigade niemals widerspenstig befunden habe«.
Bei aller Durchsetzungskraft und Disziplin – wiederum bei Burney findet sich ein Zeugnis, das den Ritter Gluck als Menschen mit sympathischen Schwächen zeichnet: »Diesen Morgen ging ich zum Chevalier Gluck, um Abschied von ihm zu nehmen; und ob es gleich schon eilf Uhr war, als ich hinkam, lag er doch noch, wie ein wahres grosses Genie im Bette. Madame sagte zwar zu mir, er pflege spät in die Nacht zu schreiben, und bliebe deswegen lange im Bette, um sich zu erholen; allein Gluck, als er zum Vorschein kam, brachte keine so gute Entschuldigung vor, sondern gestund ganz offenherzig seine Faulheit: Je suis un peu poltron ce matin (Ich bin ein bisserl ein Faullenzer heut morgen).«
Dieser Artikel erscheint im Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 1/25).
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