Was ist typisch amerikanische Musik? Rock ’n’ Roll? Jazz? Hip-Hop? Der Soundtrack zu »Star Wars«? Samuel Barbers »Adagio for Strings«? Natürlich kann die Antwort nur lauten: All das, und noch viel mehr. Die Zahl der Musikstile, die im Schmelztiegel der USA eine Heimat fanden, ist mindestens so groß wie die der Herkunftsländer seiner Bewohner. Engländer, Schweden, Russen, Italiener, Iren, Deutsche siedelten sich im Laufe der Jahrhunderte hier an. Dazu kamen Hunderttausende afrikanischer Sklaven sowie die – von den europäischen Einwanderern stark dezimierten – amerikanischen Ureinwohner. Und die Musik all dieser Menschen beeinflusste in unterschiedlichem Grad jede Musik, die in den USA entstanden ist – eben das, was wir heute als typisch amerikanische Musik kennen.
Und was ist typisch amerikanische Klassik? Da fällt die Antwort nicht viel einfacher aus. Ironischerweise blieb der dafür am stärksten prägende Faktor lange Zeit die Musiktradition Europas. Selbst als am Ende des 19. Jahrhunderts gezielt eine »nationale amerikanische Musik« geschaffen werden sollte, holte man für diese Aufgabe einen Europäer: Von 1892 bis 1895 arbeitete der Tscheche Antonín Dvorák am New Yorker Konservatorium daran, einen solchen neuen Stil zu finden. Heraus kam dabei großartige Musik wie sein »Amerikanisches Streichquartett« oder seine 9. Sinfonie »Aus der Neuen Welt«; aber stilprägend für die kommenden Generationen US-amerikanischer Komponisten wurde er damit nicht. Bis zum Urknall der amerikanischen Moderne sollte es noch ein paar Jahre dauern.
Live aus der Elbphilharmonie: Das NDR-Festival »Age of Anxiety«
Beim Festival »Age of Anxiety« widmen sich das NDR Elbphilharmonie Orchester und Alan Gilbert der vielseitigen Musikkultur Amerikas.

Konzertstream aus der Elbphilharmonie: »Aus der Neuen Welt«
Unter der Leitung von Manfred Honeck spielt das NDR Elbphilharmonie Orchester Dvořáks beliebte Neunte Sinfonie im Grossen Saal der Elbphilharmonie.
EINSAMER WOLF
Während in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts Arnold Schönberg die Grenzen der Tonalität austestete und schließlich überwand, ging auch in den USA ein Mann ganz neue, eigenständige, radikale musikalische Wege: Charles Ives (1874–1954). Dessen kompositorischen Rang brachte wohl niemand besser auf den Punkt als Igor Strawinsky, der seinem Kollegen attestierte, Stilmittel der musikalischen Moderne wie Polytonalität, Atonalität, Clusterklänge und Mikrointervalle schon verwendet zu haben, bevor die besagte Moderne »offiziell« überhaupt existierte.
Dabei war Ives die meiste Zeit seines Lebens nicht einmal hauptberuflich Komponist. Direkt nach seinem Kompositionsstudium entschied sich der Sohn eines Armee-Kapellmeisters für eine Laufbahn als Versicherungsmakler. Seit 1902 schrieb er Musik nur noch in seiner Freizeit. Grund für diese Entscheidung war möglicherweise Ives’ ausgeprägter Sinn für künstlerische Unabhängigkeit: Da er nun nicht mehr darauf angewiesen war, mit seiner Musik Geld zu verdienen, hatte er es auch nicht nötig, sich dem Geschmack des Publikums anzupassen.

Und so schuf Ives bis 1918 – mehr oder weniger unbeachtet von der Öffentlichkeit – eine Fülle wegweisender Vokal-, Kammer- und Orchesterwerke, die heute als stilbildend für die amerikanische Musik der Moderne gelten. Eine breitere Öffentlichkeit nahm sein Schaffen erst ab den späten 1920ern zur Kenntnis – da hatte Ives das Komponieren bereits weitgehend eingestellt. In seiner künstlerischen Bedeutung wirklich erkannt, wurde Charles Ives erst nach seinem Tod.
MIT DER FAUST
Ähnlich wie Ives spielte auch der deutlich jüngere Henry Cowell (1897–1965) eine wichtige Rolle bei der Entstehung der amerikanischen modernen Musik – und wie Ives steht auch er mit seinem Stil und Schaffen einzig da. In extremer Armut aufgewachsen und beinah ohne reguläre Schulbildung, entwickelte sich der hochbegabte Cowell bereits als Teenager zu einem Komponisten mit einer bemerkenswerten eigenen Stimme, und schon Mitte der 1930er galt er als ein bedeutender Protagonist der internationalen Neue-Musik-Szene: Unter anderem Béla Bartók und Arnold Schönberg zeigten sich beeindruckt von Cowells Kompositionen. Darüber hinaus ebnete er als Lehrer und Publizist jüngeren Komponisten wie Philip Glass, Steve Reich, George Crumb und John Cage den Weg.
Charakteristisch für Cowells Schaffen sind die unorthodoxen Wege, die er auf der Suche nach immer neuen musikalischen Ausdrucksmitteln beschritt. So schockierte er bereits in den 1920ern Presse und Publikum damit, dass er die Tastatur des Klaviers mit der Faust oder beiden Unterarmen malträtierte oder – am offenen Flügel stehend – mit den Händen direkt über die Saiten strich und kratzte, womit er dem Instrument ausgesprochen ungewohnte Klänge entlockte. Inspiration fand Cowell zudem in der Musik so unterschiedlicher Länder wie Japan, Java, Indien oder dem Iran.
DIE MACHT DES ZUFALLS
Einer von Cowells Schülern hat der Musik nicht nur in den USA, sondern weit darüber hinaus eine ganz neue Richtung gegeben: John Cage (1912–1992) erweiterte inspiriert von seinem Lehrer, das Klangspektrum des Klaviers, indem er Gegenstände aus verschiedenen Materialien auf und zwischen den Saiten befestigte – ein Prinzip, das unter dem Begriff »präpariertes Klavier« Schule machte. Daneben interessierte er sich für fernöstliche Philosophien und hatte ein Faible dafür, kompositorische Prozesse nach zahlenmäßigen Ordnungsprinzipien ablaufen zu lassen. Beides führte ihn dazu, sein Schaffen mehr und mehr von subjektiven Entscheidungen zu befreien.
John Cage und die Minimalisten waren die ersten US-Komponisten, die sich in Europa etablieren konnten.
Und so machte er spätestens mit seiner »Music of Changes« aus dem Jahr 1951 den Zufall zum bestimmenden Element: Münzwürfe und das chinesische Orakelbuch I Ging entscheiden hier (und in vielen nachfolgenden Kompositionen Cages) über die Reihenfolge, in der die musikalischen Ereignisse eintreten, so dass keine Aufführung der anderen gleicht. Am radikalsten setzte Cage die Idee des Zufalls in dem legendären »4‘ 33“« um – einem Werk, in dem gar keine Musik mehr gespielt wird. Stattdessen lässt der Interpret für die Dauer von vier Minuten und 33 Sekunden in Stille die natürlichen Geräusche der Umgebung auf sich und das Publikum wirken.
Mit dem »Untitled Event« des Jahres 1952 beschritt Cage noch einmal ganz neue Wege: Als erstes multimediales Konzert stieß dieses Happening mit Live- und elektronischer Musik, Tanz und Bildender Kunst eine Entwicklung an, die sich in den Werken der Fluxus-Bewegung fortsetzte: einer Kunstrichtung, die in oft genreübergreifenden Aktionen die Grenzen zwischen Kunst und Alltag, Künstler und Zuschauer zu verwischen versuchte. Auch in den spektakulären multimedialen Konzert-Events der Gegenwart lebt Cages Idee weiter, Musik mit anderen Künsten zu einer umfassenden Erfahrung für alle Sinne zu verbinden.

WENIGER IST MEHR
In den 1960er-Jahren entstand, beeinflusst von John Cage und dem New Yorker Avantgardisten Moondog, der Minimalismus. Charakteristisch für diesen Stil ist die Reduktion des musikalischen Geschehens auf die Wiederholung sich nur minimal verändernder musikalischer Bausteine, sogenannter Patterns. Als Hauptvertreter des Minimalismus gelten die – allesamt Mitte der 1930er geborenen – Komponisten Terry Riley, La Monte Young, Philip Glass und Steve Reich; im weiteren Sinne zählt auch der ein Jahrzehnt jüngere John Adams zu dieser Gruppe.
Mit seinen klaren Strukturen, der meist tonalen Harmonik und seiner geradezu hypnotischen Wirkung machte der Minimalismus in breitenwirksamer Weise Schule. Zusammen mit dem Werk von John Cage war er die erste Strömung der musikalischen Klassik, die von den USA aus den Weg nach Europa fand und sich hier wie dort als Gegenentwurf zum Serialismus in der Nachfolge Schönbergs etablierte. Daneben überwand der Minimalismus auch die – in Amerika ohnehin nicht sehr starre –Grenze zwischen Klassik und Pop: Bis heute ist sein Einfluss in vielen Bereichen der populären Musikkultur unverkennbar, ob in Techno oder Hip-Hop, Meditationsmusik oder Werbung.

John Adams im Konzertstream aus der Elbphilharmonie
Im Festkonzert zum 5. Geburtstag der Elbphilharmonie spielt das NDR Elbphilharmonie Orchester Stücke von John Adams, Thomas Adès und Esa-Pekka Salonen.
GRENZÜBERSCHREITUNGEN
Der Minimalismus ist aber nur ein Beispiel für den regen Austausch zwischen den in den USA eben gar nicht so streng getrennten musikalischen Sphären der E- und U-Musik – was womöglich an der vergleichsweise jungen Musikgeschichte der USA liegt. Schon im 19. Jahrhundert jedenfalls bedienten sich amerikanische Komponisten bei Volkslied, Gospel und Marschmusik, um einen nationalen Ton zu finden. Und spätestens in den 1930er-Jahren, als die Große Depression das Land fest im Griff hatte, wuchs bei den von Wirtschaftsmisere und Arbeitslosigkeit gebeutelten Menschen das Bedürfnis nach leicht verständlicher Musik, dem sich auch die »klassischen« Komponisten nicht verschlossen.
Paradigmatisch für diesen Zugang steht etwa Aaron Copland (1900–1990), der in seinen Werken Folksongs, Cowboylieder und Erweckungshymnen verarbeitete und damit eine Musik schuf, die bis heute als Inbegriff des Amerikanischen betrachtet wird. Ein weiteres großartiges Beispiel für die künstlerisch fruchtbare Verbindung von Klassik und populärer Musik ist das Werk von George Gershwin (1898–1937), der immer wieder aus den reichen musikalischen Traditionen der afroamerikanischen Musik schöpfte. Und selbst wenn heutzutage gerade in Bezug auf Gershwins Oper »Porgy and Bess« diskutiert wird, ob es nicht eine unzulässige kulturelle Aneignung gewesen sei, als wohlsituierter Weißer das Leben der schwarzen Unterschicht auf die Bühne zu bringen, gilt das Werk doch nach wie vor als Meilenstein des US-amerikanischen Musiktheaters.

Die musikalischen Sphären sind hier nicht so streng getrennt, die Grenzen zwischen Klassik und Pop weniger starr.
Übrigens ließen sich von den offenen Genregrenzen in den USA auch viele der aus Europa vor den Nazis geflohenen Komponisten inspirieren: Hanns Eisler, Kurt Weill und Erich W. Korngold feierten mit Broadway-Musicals und Soundtracks zu Hollywoodfilmen große Erfolge. Last but not least ist natürlich auch Leonard Bernstein (1918–1990) unter den Komponisten zu nennen, die unbekümmert über die Grenzen zwischen »hoher« und »niederer« Kultur hinweggingen: Musicals wie die »West Side Story« (1957) oder »Candide« (1974) wurden am Broadway uraufgeführt, während Bernsteins Sinfonien die Konzertsäle der Welt eroberten.

Auch in der aktuellen klassischen Musik der USA bleiben die Grenzen zwischen den musikalischen Sphären weiterhin unscharf – und öffnen sich zudem in Richtung nicht-musikalischer Themen: Junge Komponisten wie Nico Muhly (geb. 1981), Mohammed Fairouz (geb. 1985) oder Arlene Sierra (geb. 1970) schöpfen Inspiration nicht nur aus Indie-Pop und arabischer Musik, sondern auch aus außermusikalischen Quellen wie Militärstrategien und den Migrationsbewegungen von Schmetterlingen.
EIGENE STIMMEN
Dass afroamerikanische Künstler wie Duke Ellington, Miles Davis oder Charles Mingus grandiosen Jazz komponierten, ist weithin bekannt. Darüber hinaus jedoch rücken in den letzten Jahren zunehmend die vielen hervorragenden klassischen Komponisten afroamerikanischer Herkunft ins Blickfeld. Der bekannteste unter ihnen ist vermutlich Scott Joplin (1867–1917), der nicht nur den populären Ragtime »The Entertainer« komponierte, sondern auch mit seiner Oper »Treemonisha« Geschichte schrieb.
Als Grandseigneur der afroamerikanischen Klassik-Komponisten gilt William Grant Still (1895–1978), dessen Werk neben Solokonzerten, Balletten, Vokal- und Kammermusik auch fünf Sinfonien und acht Opern umfasst. William Levi Dawson (1899–1990) wiederum bereicherte nicht nur die Chorliteratur um zahlreiche wunderbare Werke, sondern wurde 1934 durch die triumphale Aufführung seiner »Negro Folk Symphony« im ganzen Land bekannt. In der Gegenwart machen Künstler wie Jessie Montgomery (geb. 1981) oder Nkeiru Okoye (geb. 1972) von sich reden und gestalten die musikalische Landschaft der USA mit starker Stimme mit.

Auch die amerikanischen Ureinwohner haben einige bemerkenswerte Komponisten hervorgebracht. Exemplarisch sei hier die Cellistin und Komponistin Dawn Avery genannt, die sich von der Musik ihres Volkes, der Mohawk, ebenso inspirieren lässt wie von Beethoven und Sting. Oder Brent Michael Davids (geb. 1959), der experimentelle Werke in der Tradition von George Crumb komponiert und eigene Instrumente erfindet, um seine Klangvorstellungen zu realisieren. Oder Raven Chacon (geb. 1977), der immer wieder mit aufsehenerregenden musikalischen Happenings von sich reden macht. Keine dieser jungen Stimmen gehört einer bestimmten Schule, Bewegung oder Traditionslinie an. Aber sie alle eint die Offenheit für das Arbeiten mit den unterschiedlichsten Stilen – und eine sich immer weiter öffnende Vision der amerikanischen Identität.
Song of America: A Celebration of Black Music
Das Festival feierte Musik, Poesie und Geschichten Schwarzer Komponisten, Schriftsteller und Künstler. Einige Konzertstreams können auch jetzt noch nachgeschaut werden.
Text: Juliane Weigel-Krämer, Stand: 02.02.2022