Möchte man von Yuja Wang erzählen, muss man auch über Schubladen sprechen. Nicht über die Schubladen in Schranken oder Kommoden, sondern über jene in den Köpfen der Menschen. Davon gibt es definitiv mehr als genug auf dieser Welt – und ganz besonders in Yuja Wangs Leben. Vermutlich keine andere Künstlerin im Klassikgeschäft wurde und wird so häufig, so vorschnell und oft auch so widersprüchlich in diverse Schubladen gesteckt wie die chinesische Pianistin. Natürlich, die Gesellschaft funktioniert so, ein gewisses Maß an Schubladendenken ist wesentlich fürs soziale Miteinander, ohne Abgrenzung geht es nicht. Aber die entschiedene Heftigkeit, mit der, nur beispielsweise, von manchen über die Kurze von Yuja Wangs Kleidern lamentiert wird, und die Vorurteile, die als Konsequenz daraus gezogen werden, sind schon verblüffend dumm. »Viel Haut = wenig Tiefe«: Schublade auf, Yuja Wang rein, fertig.
Die gute Seite: Yuja Wang juckt es nicht – sie steht über solchen Vorurteilen. Die schlechte Seite: Yuja Wang juckt es nicht – sie äußert sich auch nicht zu schlicht übergriffigen Kommentaren, die ihr Äußeres betreffen. Wobei es im Sinne der aktuellen Feminismus-Debatten manchmal durchaus wünschenswert wäre, sie wurde all jenen Kritikern Kontra geben. Aber in die Feminismus-Schublade gehört die Künstlerin nun mal auch nicht.
»Ihre tiefe Musikalität zieht den Zuhörer ganz unmittelbar in Bann.«
Financial Times
Künstlerin im Fokus
In der Saison 2021/2022 ist Yuja Wang gleich mehrfach in der Elbphilharmonie zu erleben.
Mehr als ein Wunderkind
Die erste Schublade, die in Wangs Leben eine Rolle spielte, war die mit dem Etikett »Wunderkind«. Als sie 1994 im Alter von sieben Jahren zum ersten Mal am Musikkonservatorium ihrer Heimatstadt Peking auftauchte, wurde sie von ihren Jung-Kommilitonen argwöhnisch beäugt. »Alle anderen Kinder sahen mich an, als wäre ich eine andere Spezies in einem Zoo«, erinnerte sie sich in einem Interview mit dem »New Yorker«.
Ihre Eltern – auf die Wang nichts kommen lässt, die sie inzwischen aber nur noch selten sieht – waren in dieser Hinsicht keine große Stütze. Sie lebten und leben in einem von kommunistischen Idealen geprägten System, das sie komplett absorbiert. Früher versuchten sie, in dieser Umgebung künstlerisch tätig zu sein: Wangs Mutter war Tänzerin, ihr Vater Jazz-Schlagzeuger. »Sie sind sehr naive Menschen. Extrem konservativ und traditionell, sehr kommunistisch«, sagt Yuja Wang. »Dostojewski und Tolstoi beschreiben in ihren Büchern genau solche Personen. Einfache, freundliche Menschen. Beide waren sehr talentiert, sehr künstlerisch – oder eher autistisch? Ihre Umgebung ließ sie jedenfalls nicht die Menschen sein, die sie hätten sein können.«
All das ist nichts Ungewöhnliches in der Volksrepublik China, aber eben auch nicht für jeden ein passendes Modell. Man lebt und arbeitet für die Gemeinschaft und nicht für sich selbst – alles andere wäre Egoismus. »So fühle ich nicht, das bin ich nicht«, sagt Wang. »Es ist ein Glück, dass ich mich diesem System früh entziehen konnte.«

»Ich war als Wunderkind berühmt, aber wenn ich gut gespielt habe, war die Reaktion immer: ›Wer weiß schon, was die Zukunft bringt.‹ Es gab nur Zweifel, nie Ermutigung.«
Yuja Wang
»Lang Lang in einem Kleid«
Benefizkonzert im Livestream
Gemeinsam mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester und Alan Gilbert ist Yuja Wang am 27. Februar 2022 im Benefizkonzert des Bundespräsidenten zu erleben – auf dem Programm: Liszts Erstes Klavierkonzert und Beethovens berühmte Fünfte Sinfonie. Das Konzert wird live übertragen.
Tatsächlich nutzte Wang die erste sich bietende Gelegenheit, China zu verlassen. Im Alter von 12 Jahren besuchte sie eine Summer School in Kanada, um Englisch zu lernen; zwei weitere Sommer dieser Art folgten. 2001 begann sie ein Studium am Mount Royal College in Calgary, ein Jahr später gewann sie das Vorspiel am berühmten Curtis Institute in Philadelphia. Da war sie 15, lebte alleine in den USA – und wurde in die nächste Schublade gepackt. »Über mich heißt es oft: Das ist Lang Lang in einem Kleid«, erzählt sie über den Vergleich mit ihrem fünf Jahre älteren, damals bereits berühmten Pianistenkollegen. »Wir kommen ja beide aus China und hatten dieselben Lehrer, in Peking wie auch am Curtis Institute. Aber wir sind ganz unterschiedlich.«
Das interessierte die meisten offenbar nicht, lieber bedienten sie sich der Schublade mit dem Etikett »chinesisches Fließband-Technik-Wunder«: Schublade auf (in der Lang Lang schon steckte), Yuja Wang rein, fertig. Da beweist eine grade mal 15 Jahre junge Frau Mut, Selbstständigkeit, Neugier, zieht ganz alleine aus China in die USA und hatte doch alleine dafür Anerkennung, wenn nicht Hochachtung verdient. Stattdessen: das böse Asiaten-Klischee.

Intensive Lehrjahre und europäische Vorbilder
Dabei hatte Wang daheim in China ganz andere Erfahrungen gemacht. Die längste Zeit ihrer Ausbildung genoss sie bei ein und derselben Klavierlehrerin, Ling Yuan. Die Beziehung zwischen beiden war sehr eng, der Unterricht umfasste nicht nur Klavierstunden, sondern auch Museums- und Theaterbesuche oder gemeinsames Essen. Yuja und ihre Lehrerin verbrachten ganze Tage miteinander. Das kann man als zu eng empfinden, für Wang aber war es ein kontrollierter, sicherer Raum mit Entfaltungsmöglichkeit. Wenn sie den Anweisungen ihrer Lehrerin folgte, war alles gut, war sie gut. Und die junge Pianistin verstand es, innerhalb dieser strengen Regeln eigene Wege zu gehen. Orientierungspunkt in dieser Lehrumgebung war die russische Kultur, die russische Klaviertradition, die Ling Yuan bewunderte.
Die Lehrerin verehrte Jewgenij Kissin, Vladimir Horowitz und Sergej Rachmaninow, aber auch Martha Argerich, Alfred Cortot. Das waren die europäischen Vorbilder, mit denen Wang als Pianistin heranwuchs – wohlgemerkt in einem leistungsorientierten Umfeld, in dem es vorrangig um Wettbewerbe und Preise ging. Womit Wang freilich kein Problem hatte und hat, wie sie heute sagt: »Mir hat das damals gefallen, auch wenn es wie in einer Zwangsjacke war. Es hat mir eine gute Grundlage gegeben, damit ich später frei sein konnte, und es gab immer eine Balance zwischen beidem.«
Der Weg auf die Bühnen der Welt
»Als ich nach Amerika kam, war ich schockiert, wie viel Aufmerksamkeit ich der Partitur widmen musste.«
Yuja Wang
Dieses Gleichgewicht kam durch den Umzug in die USA kurzzeitig in Schieflage. Der Klassikbetrieb funktioniert dort anders, er hat andere Bezugspunkte, legt andere Maßstäbe an. »Als ich nach Amerika kam, war ich schockiert, wie viel Aufmerksamkeit ich der Partitur widmen musste. Meine Lehrerin in China war sehr fantasievoll gewesen und hatte Wert auf die persönliche Interpretation und den Klang gelegt, statt Note für Note der Partitur zu folgen.« Wieder eine Schublade, diesmal auf der anderen Seite, in Yuja Wangs Kopf. Aber sie passte sich schnell an, beschäftigte sich zum ersten Mal mit Kammermusik, die in China kaum eine Rolle gespielt hatte, fand Lehrer wie Gary Graffman und Leon Fleisher, die ihre Anker in dieser anfangs so unbekannten Welt wurden. Fleisher war einst Student von Arthur Schnabel, Gary Graffman hatte bei Vladimir Horowitz gelernt, und so rückten die Vorbilder von früher ein bisschen näher.
Wang war beeindruckt und saugte alles auf wie ein Schwamm. Und während sie noch am Curtis Institute studierte, kamen bereits die ersten großen Engagements als Solistin mit berühmten Orchestern, dazu spektakuläre Last-Minute-Einspringer für Radu Lupu, Martha Argerich und Murray Perahia. Mit der Zeit wurden dann die viel Haut zeigenden Kleider, wie man sie eher von Eiskunstläuferinnen kennt, zu Yuja Wangs Markenzeichen, ebenso ihre sehr, sehr hohen Plateaupumps – und das beförderte Wang schlussendlich in die seichte Ecke, in die Schublade mit dem Etikett »viel Haut = wenig Tiefe«. Dass sie technisch immer herausragend spielt, stellt niemand in Abrede, ihre Virtuosität ist unbestritten. Doch schwingt immer noch bei zu vielen Klassikfreunden das böse Vorurteil mit, dass, wer zu viel Oberfläche zeige, wohl zu wenig Inhalt biete.

Warum sie ein Vorbild ist
Und schon befindet man sich gefährlich nah an jenen Vorverurteilungen, die darauf abzielen, Yuja Wang habe nicht das intellektuelle Format für die »großen Werke« der Klaviermusikgeschichte, sie könne eben nur sehr schnell sehr viele Noten spielen (was, nebenbei bemerkt, durchaus auch ein bemerkenswertes Talent wäre). Dabei trägt sie einfach nur die Kleidung, in der sie sich wohlfühlt, die sie schön findet. Sie ist körperlich klein und möchte durch die hohen Schuhe größer wirken. Fair enough – und wie cool, dass sie damit spielen kann! Natürlich mag es in vielen Bereichen sinnvolle Konventionen und Vorgaben zur Kleidung geben; doch ist eine Künstlerin keinesfalls dafür verantwortlich, dass sich ihr Publikum durch ein kurzes Kleid auf der Bühne von der Musik ablenken lässt.
Yuja Wang hat nicht nur mit ihrer Musik, sondern auch in vielen Interviews und eigenen Videoclips bewiesen, wie viel Tiefe und Klugheit hinter ihren vordergründig rein technischen Fähigkeiten stecken. Bedauerlicherweise werden diese Textstellen nicht so häufig gelesen, diese Videos nicht so oft geklickt. Die Künstlerin selbst hat anderes zu tun, als sich mit viel Kraft- und Zeitaufwand aus diesen Schubladen zu befreien. Zum Beispiel ein Aquarium anlegen, Bücher lesen, Blumen pflanzen. Genau das hat sie in den vergangenen Pandemie-Monaten in ihrem Zuhause in New York getan. Und dabei fast gar kein Klavier gespielt, ganz bewusst Pause gemacht, Platz für neue Gedankenräume und für neue Musik geschaffen. Schubladen leergeräumt. Man könnte sich ein Vorbild an ihr nehmen.
Text: Renske Steen, Stand: 9. Februar 2022