Zwischen den »Metamorphosen« des römischen Dichters Ovid und Helmut Dietls Kinofilm »Vom Suchen und Finden der Liebe« liegen ziemlich genau 2000 Jahre. Und doch eint sie dieselbe Geschichte: Der mythologische Sänger Orpheus erweicht mit seinem Gesang die Herzen der Götter, um seine verstorbene Frau Eurydike aus der Unterwelt zu erretten. Und tatsächlich darf er sie mitnehmen – unter der Bedingung, dass er sich auf dem Weg zurück zur Erde nicht nach ihr umdrehe. Doch Orpheus missachtet das Gebot und verliert Eurydike für immer.
»Aufwärts steigen sie jetzt durch schweigende Öde den Fußpfad schroff, voll düsteren Grauns und umstarrt von finsterem Dunkel. Nicht mehr waren sie fern vom Rande der oberen Erde, da, sie verlangend zu seh’n und besorgt, dass Kraft ihr gebreche, schaut er liebend sich um, und zurück gleich ist sie gesunken.«
Ovid: Metamorphosen (Orpheus und Eurydice)
Ovids Dichtung und Dietls Film aus dem Jahr 2005 könnte man als (vorläufige) Eckpunkte einer Rezeptionsgeschichte betrachten, in der die griechische Sage in nahezu allen künstlerischen Genres verarbeitet und in unzähligen Varianten durchgespielt wurde. So transportiert etwa Dietl die Geschichte in die Gegenwart und tauscht die Geschlechterrollen: Bei ihm kommt Orpheus zu Tode und folgt seiner Frau ans Tageslicht – bis sie sich wütend umdreht, weil er eine abfällige Bemerkung über ihr Hinterteil gemacht hat, woraufhin Orpheus wieder in der Unterwelt verschwindet. Selber schuld ...
Monteverdi: L’Orfeo (Ouvertüre)
Faszination Orpheus
Doch was fasziniert Komponisten, Dichter und Maler seit jeher an dem Stoff? Da wäre zum einen die – aufgrund des zweifachen Todes Eurydikes – besonders tragische Liebesgeschichte, die Orpheus und Eurydike neben Figuren wie Romeo und Julia und Tristan und Isolde zu einem der berühmtesten Liebespaare der abendländischen Kulturgeschichte macht.
Zum anderen steht die Figur des Orpheus wie keine andere als Sinnbild für die Musik – und bietet damit geradezu eine Steilvorlage für Vertonungen. Und so wundert es nicht, dass besonders die Oper einen Narren am mythischen Ur-Sänger gefressen hat.
»Orpheus ist der Opernheld schlechthin – Inkarnation der Musik, Symbol der Liebe über den Tod hinaus.«
Silke Leopold, Musikwissenschaftlerin
Der Ursprung der Oper
Schon die Geburt der Gattung ist ohne Orpheus nicht denkbar. Die Oper entstand gegen Ende des 16. Jahrhunderts im Zuge der aufkommenden Begeisterung für die Antike, die schließlich die Renaissance einläutete. Zu dieser »Wiedergeburt« zählte auch die Wiederbelebung von kulturellen Errungenschaften wie dem griechischen und römischen Theater. Auch was die Wahl des Stoffes betraf, stand die Antike Pate, und in der Gestalt des Orpheus fand man die ideale Figur. Sowohl Jacopo Peri als auch Giulio Caccini griffen 1600 in ihren »Euridice«-Opern nach einem Libretto von Ottavio Rinuccini auf diesen Stoff zurück – sie gelten heute als die ersten Musiktheaterwerke der Neuzeit. Sieben Jahre später legte dann Claudio Monteverdi mit seinem »L’Orfeo« nach. Seine »Favola in musica«, also musikalische Fabel, gilt mit ihrer Einteilung in Rezitativ und Arie heute allgemein als erste »richtige« Oper der Musikgeschichte.
Der Orpheus-Mythos und seine Rezeptionsgeschichte
Monteverdi und seine beiden Kollegen brachten mit ihren Opern einen Stein ins Rollen, dem viele weitere Vertonungen des Stoffes folgen sollten. Allein eine Auflistung im Lexikon »Die Musik in Geschichte und Gegenwart« verzeichnet über 60 Orpheus-Opern, darunter die beiden verschiedensprachigen Versionen von Christoph Willibald Gluck aus den Jahren 1762 bzw. 1774, Jacques Offenbachs parodistische und sozialkritische Operette »Orpheus in der Unterwelt« (1858) und als eines der jüngsten Beispiele Philip Glass’ Adaption »Orphée« von 1993 nach dem gleichnamigen Film von Jean Cocteau.
Christoph Willibald Gluck: Che farò senza Euridice
Neben der Oper diente Orpheus auch als Inspiration für viele andere Musikwerke höchst unterschiedlicher Genres. So findet man nicht nur eine sinfonische Dichtung Franz Liszts und ein Ballett von Igor Strawinsky, sondern auch den deutschen Liedermacher Reinhard Mey, der sein erstes Album »Ich wollte wie Orpheus singen« taufte, sowie die kanadische Indie-Rockband Arcade Fire, die Orpheus und Eurydike auf ihrem 2013 erschienenen Album »Reflektor« jeweils einen Song widmete. Doch Orpheus ist nicht nur eine musikalische Figur par excellence, er eignet sich auch als Vorlage für andere Kunstsparten – ob in Gedichten von Rainer Maria Rilke, Gottfried Benn und Johann Wolfgang von Goethe, in Theaterstücken von Tennessee Williams bis Elfriede Jelinek oder in zahlreichen Gemälden und Skulpturen.
Darüber hinaus stößt man in zahlreichen Filmen auf Orpheus – wenn auch oft in verschleierter Form. Neben »Vom Suchen und Finden der Liebe« und dem erwähnten Cocteau-Film diente der Stoff zum Beispiel auch Alfred Hitchcock als Vorlage. So wird in »Vertigo« (1958) der Polizeikommissar Scottie Ferguson Opfer einer Intrige, bei der er zweimal die vermeintlich selbe Frau sterben sieht. Ins karnevalistische Treiben Rio de Janeiros werden Orpheus und Eurydike im Film »Orfeu Negro« (1959) des französischen Regisseurs Marcel Camus verfrachtet. Statt zur Leier greift Orpheus hier zur Gitarre. Der größte Sänger aller Zeiten kann eben alles spielen!
Text: Simon Chlosta, Stand: 7.2.2022