Innenwand und Kuppel der Sheikh-Lotf-Allah Moschee in Isfahan, Iran

Mystik für alle

Sufismus ist nicht einfach Zuflucht in Trance. Vielmehr verbindet er Schöpfer und Schöpfung – auch mit Hilfe der Musik.

Unter den vielen Facetten des Islams ist der Sufismus eine der geheimnisvollsten und mächtigsten. Er fasziniert Menschen in aller Welt, auch solche, die sich gar nicht zum Islam bekennen, wie den Autor dieser Zeilen. Oft wird der Sufismus als islamische Mystik bezeichnet. Aber das greift zu kurz, zumal im Vergleich mit der christlichen Mystik. Im Christentum ist die Mystik ein marginales, vornehmlich von Einzelnen getragenes Phänomen geblieben. Der Sufismus dagegen spricht die Gläubigen in ihrer Breite an. Er ist seit dem Mittelalter in großen, transnationalen Schulrichtungen organisiert. Diese jeweils auf eine charismatische Gründergestalt zurückgehenden Schulen haben das Islamverständnis der Mehrheit der Muslime über weite Strecken der Geschichte hinweg geprägt und prägen es bis heute.

Im Kult um die Heiligengräber, die wir, mit Ausnahme der arabischen Halbinsel, überall in der muslimischen Hemisphäre finden, wird der Sufismus auch für Außenstehende begreifbar. Diese »Heiligen« waren zunächst lokal, bald auch übernational berühmte sufische Dichter, Prediger und Asketen, deren Gräber man besucht, um ihren Beistand zu erflehen. Oft wurden um diese Gräber herum Moscheen, religiöse Lehreinrichtungen und Stiftungen errichtet; viele von ihnen bestehen bis heute und sind eine Attraktion für Pilger und Touristen.

Sufi Festival

vom 25. bis 27. November in der Elbphilharmonie. Mit tanzenden Derwischen, Trance-Ritualen, persischen Liebesliedern und klassischer Musik aus Afghanistan.

Portrait eines Sufi mit Fell und Almosenschale (17. Jh.)
Portrait eines Sufi mit Fell und Almosenschale (17. Jh.) © MET

Der regelmäßige, rituelle Besuch der Gräber und Schreine repräsentiert gleichsam die volkstümliche Seite des Islams. Der Salafismus und andere puritanische Strömungen verbieten den Gräberkult als »abergläubisch«. Der Popularität des Sufismus hat das bis heute keinen Abbruch getan.

Den Sufismus umstandslos mit Mystik gleichzusetzen, ist insofern problematisch, weil es die irrationale, esoterische Seite über Gebühr betont. Die hochkulturelle, spekulative, theologische Seite gehört ebenso zum Sufismus wie die volkstümliche mit ihrem Gräberkult. Diese scheinbar widersprüchlichen Ausprägungen sind durch Kunst, Poesie und Musik eng miteinander verklammert.

Erhebend statt erhaben

Der gemeinsame Nenner aller sufischen Bestrebungen, sei es des naiven Wunderglaubens oder der abstrakten philosophischen Spekulation, ist die Begründung und Beschwörung einer Kommunikation, eines lebendigen Zusammenhangs zwischen Gott und Welt, Schöpfer und Schöpfung, Diesseits und Jenseits, Individuum und Kosmos. Das schwer zu definierende Verhältnis zwischen Gott und Mensch wird in der sufischen Kunst, Musik und Literatur jeweils neu gedeutet, inszeniert und in der Rezeption dieser Künste erfahren und erlebt. Der weit überwiegende Teil der muslimischen Kunst ist vom Sufismus geprägt und ohne ihn kaum verständlich.

Betörende Klanglichkeit

Der Sufismus will die Menschen nicht auf Abstand halten, ihnen Ehrfurcht einflößen, sondern sie mitnehmen, ihnen Zugänge zum Göttlichen und Heiligen eröffnen. Das gilt natürlich erst recht für die Musik. Religiöse Musik gibt es im Islam überhaupt nur im Rahmen des Sufismus, jenseits davon ist sie verpönt. Musik, Poesie, Heiligenverehrung, Philosophie und sogar Tanz gehen in Gestalt der sogenannten Tanzenden Derwische des Mevlevi-Ordens aus der anatolischen Stadt Konya eine beispielhafte Verbindung ein, ja verschmelzen miteinander. Zu Recht gelten sie bei uns als das Inbild des sufischen Islams, auch wenn ihr aufwendiges, vom Drehtanz begleitetes Ritual innerhalb der sufischen Musik eher untypisch ist. In der Regel lauschen die Anhänger des Sufismus der Musik, ohne zu tanzen.

Der Orden der tanzenden Derwische geht auf den sufischen Dichter und Gelehrten Djalal ad-Din Rumi zurück. 1207 im heutigen Afghanistan geboren, zog er in den Wirren des Mongolensturms nach Westen und starb 1273 in Konya. Seine Anhänger nannten ihn Mevlana, was im Arabischen und Türkischen »Unser Meister« bedeutet (daher der Name Mevlevi). Er schrieb allerdings auf Persisch, nicht auf Türkisch, und es ist nicht übertrieben, ihn einen der größten mystischen Schriftsteller aller Zeiten zu nennen.

Dschelaleddin Rumi Dschelaleddin Rumi © Alamy

Die Klage der Rohrflöte

»Höre auf die Geschichte der Rohrflöte, wie sie sich über die Trennung beklagt«, beginnt Rumis berühmte epische Dichtung »Masnawi«. Die Musik der Rohrflöte, die ja erst aus dem Schilf herausgeschnitten werden musste, steht symbolisch für die Vereinzelung des Menschen, seine Trennung vom Schöpfer. Aber‚ so Rumi weiter: »Jeder, der weit von seinem Ursprung entfernt ist, sehnt sich danach, wieder mit ihm vereint zu sein.« Der Ursprung ist natürlich Gott, beziehungsweise das als Gott vorgestellte All-Eine, das kosmische Ganze — auch dies eine Vorstellung, die alle Sufis von Indien bis Marokko teilen.

In der sich steigernden Ekstase soll diese Trennung aufgehoben, die Verbindung zum Kosmos oder All-Einen wieder hergestellt werden. Die Drehungen der Derwische symbolisieren diese kosmische Verbindung, denn sie sind der Drehung der Gestirne um einen Mittelpunkt nachempfunden, so wie die Planeten um die Sonne kreisen. Was nach sufischer Lehre den Mittelpunkt (Gott) mit den ihn umkreisenden, von ihm angezogenen Einzelnen (den Planeten) verbindet, ist jedoch nichts anderes als die Liebe, die als die alles bewegende Kraft des Kosmos gedeutet wird.

So erklärt es sich, dass die Dichter des Sufismus allesamt große Liebesdichter sind. Die Liebe zu einem anderen Menschen ist für sie immer auch und letztlich nur die auf ein irdisches Maß heruntergebrochene Version der Liebe Gottes zu den Menschen und der Liebe der Menschen zu Gott. Das eine wird durch das andere symbolisiert, weshalb Fragen wie etwa die, ob der berühmte mittelalterliche persische Dichter Hafis nun die Liebe zu Gott oder zu einem konkreten Menschen besingt, an der Sache vorbeigehen: Der sufische Dichter besingt stets beides.

 

Die Metaphysik der Liebe

Der Ursprung der sufischen Lehre, die die irdische Liebe als kosmische Kraft, ja als göttlichen Ursprung der Schöpfung begreift, ist in der Spätantike zu suchen und geht letztlich auf Platon zurück, der die Metaphysik der Liebe in vielen seiner Dialoge thematisiert hat. Die spätantiken Neuplatoniker, angefangen mit Plotin im dritten Jahrhundert, haben diese Vorstellung dann in einen Zusammenhang mit ihrer Lehre vom »Einen« gebracht, aus dem die Welt gleichsam ausgeflossen (»emaniert«) sein soll.

Im Zuge der Ausbreitung des Islams sind viele neuplatonische Schriften ins Arabische übersetzt worden. Sie haben die arabischen Philosophen nachhaltig beeinflusst, ebenso aber auch die Dichter und Denker des Sufismus.

Um zu verstehen, wie und warum das absolute Eine, das die muslimischen Philosophen als anderen Namen für Gott verstanden, mit der profanen, irdischen Erscheinungswelt zusammenhängt, haben schon die Neuplatoniker einen Vergleich mit der Liebe gezogen: Es ist das Begehren des höchsten Einen (also Gottes), geliebt und erkannt zu werden, das die Welt hervorbringt – ganz so, wie auch Menschen gesehen und geliebt werden wollen und ihre eigenen Schöpfungen lieben. In diesem Sinn lautet ein unter Sufis weit verbreiteter Spruch, den Allah über sich selbst gesagt haben soll:

»Ich war ein verborgener Schatz und wollte erkannt werden. Deswegen schuf ich die Welt.«

Mit diesem Verweis auf Gottes Wunsch, von den Geschöpfen erkannt und geliebt zu werden, lösten die Sufis eines der Hauptprobleme der islamischen Theologie: Wie können die Gläubigen ein Verhältnis zu einem Gott entwickeln, der als absolut transzendent und unvergleichlich gilt? Ihre Antwort lautet: mithilfe derselben kosmischen Kraft, die die Welt als Ausfluss aus dem Einen hervorgebracht hat – nämlich der Liebe, so wie es die neuplatonischen Philosophen gelehrt hatten.

Alireza Ghorbani singt persische Liebeslieder

In alle Winkel der Welt

Muslimische Kaufleute, die oft selbst einem sufischen Orden angehörten, sowie sufische Wanderprediger, Dichter und Sänger verbreiteten die Lehre von der göttlichen Liebe und des sufischen Islams bis in die entlegensten Winkel Afrikas und Asiens. Die überregionalen, ja globalen Netzwerke, die so geschaffen wurden, kamen dem Austausch von Waren ebenso zugute wie dem von Ideen, religiösen Praktiken und künstlerischen Ausdrucksformen.

So erklärt sich ferner, warum wir überall entlang der sogenannten Seidenstraße Poesie und Musik antreffen, die von der Spiritualität des sufischen Islams beeinflusst sind. Das gilt auch und gerade mit Bezug auf solche Musik, die wir heute der hinduistischen Tradition zuordnen würden. Hinduismus und Islam haben sich seit dem Mittelalter und der mehr als ein halbes Jahrtausend lang währenden muslimischen Herrschaft in Nordindien wechselseitig beeinflusst – so sehr, dass man heute oft nicht mehr weiß, ob ein Heiliger, ein Fakir, ein Asket nun Muslim oder Hindu, Sufi oder Yogi gewesen ist, so dass er heute von Anhängern beider Religionen verehrt wird.

Über die Grenze

So wie die Mevlevi-Derwische traditionellerweise nicht auf einer abgegrenzten Bühne vor den Zuschauern ihren wirbelnden Tanz aufführen, sondern inmitten der im Kreis um sie herum kauernden Gläubigen, so ist die Musik der Sufis in der Lebenspraxis vor Ort überall durch Intimität, Unmittelbarkeit und Spontanität geprägt. Alle Anwesenden haben direkt daran teil, ja gehören dazu, und zuweilen gibt es weder Anfang noch Ende.

Die sufische Musik überwindet die Vorurteile und Grenzen der gesellschaftlichen Schichten und Konventionen ebenso leicht wie jene andere, größere Grenze, die zu überwinden ihre Mission ist: Die Grenze zwischen Schöpfer und Schöpfung. Dank ihrer im wahrsten Sinne des Wortes unüberhörbaren Spiritualität findet sie selbst unter jenen begeisterte Zuhörerinnen und Zuhörer, die sich als durch und durch modern, westlich und säkularisiert betrachten.

 

Autor: Stefan Weidner, Stand: 13.10.2022

 

Stefan Weidner ist Autor und Islamwissenschaftler. Zuletzt erschien von ihm die Literaturgeschichte: »1001 Buch. Die Literaturen des Orients« (Edition Converso 2022). Die hier erwähnten Verse sind nach diesem Buch zitiert.

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