Marc Ribot

Marc Ribot im Portrait

Der Klangbildhauer vereint die Rohheit des Punk, die Cleverness des Jazz und die Sensibilität eines Künstlers, den das Leben nicht glattschleifen konnte

Text: Tom R. Schulz, 22.07.2024

 

Seine Spieltechnik ist zum Niederknien, auch das musiktheoretische Rüstzeug hat er voll drauf. Die Finger seiner Linken laufen wie ferngesteuert und dennoch zielbewusst übers Griffbrett. In der Rechten hält er kein Plektrum, sondern er versetzt die Saiten mit den bloßen Fingern in Schwingung, auch mit dem Daumen, wie ein Konzertgitarrist. Das macht auf der E-Gitarre fast niemand. Auch wenn er damit rekordverdächtige Geschwindigkeiten erreicht, bringt nichts ihn ins Schwitzen.

Matteo Mancuso, 27 Jahre alt, Sohn eines Gitarristen aus Palermo, ist derzeit das Phänomen schlechthin in der Welt der schwirrenden sechs Saiten, und die ist seit mindestens sechzig Jahren wahrlich dicht bevölkert von außergewöhnlichen Spielern, zunehmend auch von Spielerinnen. Der Rockgitarrist Steve Vai nennt Mancuso die Zukunft der elektrischen Gitarre. Auch andere namhafte Profis schwärmen von ihm als der neuen Offenbarung. Sogar Al Di Meola, der von der eigenen Grandiosität stets restlos überzeugte Hypervirtuose des Fusionjazz.

Matteo Mancuso
Matteo Mancuso © Paolo Terlizzi

Reflektor Marc Ribot :15.–17. November 2024

Zwischen Jazz, Rock, Noise und Protest Songs ist Marc Ribot zur Gitarren-Legende geworden. In seinem Reflektor präsentiert er an drei Tagen seine großartig unterschiedlichen Bandprojekte.

Nicht glatt, sondern rau

Seine Technik dagegen sieht nach Arbeit aus. Marc Ribot, 42 Jahre älter als Mancuso, ringt noch heute um jeden Ton, den er artikuliert. Coolness, gar Eleganz beim Spiel? Kümmert ihn nicht. Dafür bringt der Großmeister der Noise Music, der viel im Sitzen spielt, seinen Kopf oft so nah an den Korpus des Instruments, dass die Grenze zwischen beiden manchmal zu verschwimmen scheint. Auch und gerade Töne, die schief und krumm klingen, haut er voller Absicht und mit Wucht raus. Überhaupt, was sind schon richtige Töne? Richtige Töne, sagt Marc Ribot in einem schönen Film, den eine französische Regisseurin über ihn gedreht hat (»La corde perdue«, 2007), das seien fünf Prozent von dem, worauf es beim Spielen ankomme. Die restlichen 95 Prozent seien der semiotische Kontext. Aha.

Marc Ribot
Marc Ribot © Ebru Yildiz

Tempo auf der Gitarre, um Eindruck zu schinden? Wenn er es darauf anlegt, kann er ziemlich schnell sein, aber in einem Rennen gegen Matteo Mancuso wäre er chancenlos. Was ganz egal ist, denn auf einen solchen Wettlauf würde sich Marc Ribot wegen völliger Abwegigkeit desselben sowieso niemals einlassen. Und Mancuso besser auch nicht. Er wäre der Hase, Ribot der Igel.

Marc Ribot vereint in sich die Rohheit des Punk, die Cleverness des Jazz, die unbändige Lust an ungefähr fünfzig weiteren Spielarten der Musik und die Sensibilität eines Künstlers, den all die Rauheit des Lebens nicht glattzuschleifen vermochte. Wie bei Mancuso schwingt natürlich auch bei ihm die Geschichte des Instruments mit, aber sein Horizont ist eher »From Hank to Hendrix« aufgespannt, wie Neil Young einmal den seinen umriss.

Lärm in Zeitlupe

Ribot beherrscht die Kunst der krachenden Rockgitarre, ohne je ins berüchtigte Gniedeln zu verfallen. Er ist aber auch ein grandioser Minimalist. »La corde perdue« beginnt mit einer Szene aus einem Clubkonzert in Frankreich, wo er als Sologitarrist gastiert. Minutenlang zelebriert er fein austarierten Lärm in Zeitlupe, der einen augenblicklich in seinen Bann zieht. Da entsteht aus ein paar lang gehaltenen und wie zufällig gefundenen Tönen aus g-Moll – abgenommen nicht nur über die Tonabnehmer der E-Gitarre, sondern auch mit einem Kontaktmikrofon, das Ribot in der rechten Hand dicht über den Saiten hält, und klanglich noch intensiviert über ein paar Effektgeräte, die er mit dem Fuß bedient – ein Klang von gewaltiger hypnotischer Kraft. Ein Klang, der wie eine Skulptur aus langsam fließender, immaterieller Lava in den Raum wächst und ihn bis in den letzten Winkel erfüllt. Reine Gegenwartskunst, augenscheinlich frei improvisiert.

Bei anderer Gelegenheit kneten die Finger seiner Linken in einem ausdauernden Kraftakt das Griffbrett, um ihm eine kapriziöse Figur zu entwinden, die nur aus ein paar eckigen, sich wiederholenden Tönen besteht. Dabei wringt er diese paar Töne mit einer knochenbrecherischen Intensität, als gelte es, aus einer schon ausgepressten Zitrone noch den allerletzten Tropfen zu extrahieren.

Bei Marc Ribot kommt nichts weg. Jeder sieht und hört, dass er keine Technikmaschine ist, sondern seine Klänge modelliert, mit groben Klötzen, groben Keilen und vor allem mit einem Gewissen. Beim Spielen benutzt er sowohl ein Plektrum als auch seine Finger, seine Akkordarbeitertechnik gehorcht ihm blind. Ribot ist der vielleicht plastischste Tonerzeuger, den die E-Gitarre je gesehen hat. Ein Klangbildhauer.

Was die Würde gebietet

Sieht man Matteo Mancuso spielen, ist man geneigt, das eigene Instrument an den Nagel zu hängen. Der Mann ist technisch so unerreichbar gut. Sieht man Marc Ribot spielen, nimmt man es gleich wieder von der Wand und fühlt sich ermutigt, darauf etwas zu probieren, was man vorher noch nicht gewagt hat. Ribot inspiriert, weil ihm alles Gustav-Ganshafte der technisch so glattpolierten Gitarristen abgeht. Seine Ästhetik ist die einer Armutsmusik, die sich aus dem Dreck erhebt, nicht um es irgendwo irgendwie »zu schaffen«, den Dreck gegen Luxus einzutauschen und sich nie wieder nach der Vergangenheit umzudrehen. Sondern weil die Würde es dem Menschen gebietet, dass er sich aus der Erniedrigung erhebt, aus eigener Kraft. Dass er sich mit den Widerständen nicht abfindet, sondern sie fruchtbar macht, weil es ihm dann besser geht.

»Meine Beziehung zur Gitarre gleicht einem Kampf«, schreibt Ribot in seinem herrlich eigensinnigen Buch »Unstrung«. »Ich zwinge sie dauernd dazu, etwas anderes zu sein – ein Saxofon, ein Schrei, eine Karre, die einen Hügel runterrollt. Manchmal gehorcht sie. Manchmal gebe ich auf und spiele Surf-Musik (das wollen sowieso alle E-Gitarristen). Surf-Musik geht in Ordnung, für eine Weile. Aber dann passiert irgendwas, das nach Übersetzung schreit, und dann beginnt alles wieder von vorne … Gitarren macht Kampf nichts aus. Gitarren sind Kampf. Ich habe lange mit Gitarren gelebt. Ich habe sie zurechtgebogen. Und sie mich.«

Wunderschön eigenwillig

Hätte der Junge aus Orange in New Jersey, dem Bundesstaat gegenüber von New York auf der anderen Seite des Hudson River, nicht einst eine Zahnspange verpasst bekommen, dann hätte er wohl weiter Trompete gespielt. Weil das aber mit Spange nicht möglich ist, fing Marc Ribot als Elfjähriger mit der Gitarre an. Ein Freund der Familie, Frantz Casseus, gab ihm Unterricht, jeden Sonntagmittag, in seiner mit lauter Zeug vollgestopften kleinen Wohnung in Manhattan. Er war der einzige Lehrer, den Ribot je hatte.

Marc Ribot und Frantz Casseus
Marc Ribot und Frantz Casseus © marcribot.com

Frantz Casseus war 1946 aus Haiti nach New York City gekommen und spielte eine wunderschöne, eigenwillige, komplexe, dabei nicht sehr virtuose Musik, in der er haitianische Folkmelodien und Tanzrhythmen mit Elementen klassischer Musik verband, ähnlich wie Heitor Villa-Lobos das zuvor mit brasilianischer Musik getan hatte. Der Gipfelpunkt seines Erfolgs in den USA war erreicht, als Harry Belafonte seinen Song »Merci Bon Dieu« coverte. Doch gesundheitliche Probleme und vorenthaltene Verlagsrechte machten ihm schwer zu schaffen.

Marc Ribots Mutter Harriet brachte schließlich Ordnung in Casseus’ Finanzen. Und Ribot selbst sprang für seinen Lehrer in die Bresche, als der wegen einer Sehnenmalaise in den Händen kaum mehr spielen konnte. In Casseus’ letzten Lebensjahren nahm Ribot auf dessen Bitte viel von der Musik für akustische Gitarre auf, die sein Lehrer komponiert hatte. »Obwohl ich bei Herrn Casseus Gitarre studiert hatte«, schreibt Ribot in den Liner notes, »hat mich meine eigene Entwicklung (oder vielleicht meine Rückentwicklung) von diesen Studien ziemlich weit entfernt.«

Tatsächlich hatte Ribot seit den frühen Achtzigern als einer der schillerndsten Repräsentanten der Krachmachermusik New Yorker Provenienz längst Legendenstatus auf einem ästhetisch ganz anderen Feld erreicht. Doch auf dem 2021 neu veröffentlichten und um einige Bonustracks ergänzten Album »Marc Ribot plays solo guitar works by Frantz Casseus« zeichnet der Klangbildhauer Ribot den poetisch-verspielten Flow der Musik seines Lehrers mit feinem Strich nach, reich an subtilen Zwischentönen und frei von aller Rebellion. Das Album war ein Liebesdienst. Er zeigt viel von der Integrität des Charaktermusikers Marc Ribot, der 2012 gemeinsam mit Alberto Mesirca auch die Notenausgabe vieler Stücke von Casseus besorgte.

Marc Ribot
Marc Ribot Marc Ribot © Ebru Yildiz

Experimentell extravagant

Als Marc Ribot so alt war wie Matteo Mancuso heute, mit 27 Jahren, gehörte er zu den Realtones, der Begleitband des Soul-Stars Solomon Burke und anderer US-Pop-Heroen wie Wilson Pickett und Chuck Berry. Vier Jahre später, 1985, spielte er auf dem Album »Rain Dogs« von Tom Waits eine zentrale Rolle. Schon mit dem Vorgängeralbum »Swordfishtrombones« (1983) hatte sich Waits, für viele der Charles Bukowski des American Song, als Diseur im Stile des Cabaret-noir und experimentell instrumentierter Songs à la Kurt Weill empfohlen und damit die Fans extravaganter Musik entzückt.

In Ribots Buch »Unstrung« kommt Waits nicht vor. Dafür findet sich ein besonders berührendes musikalisches Dokument mit Waits und ihm auf dem großartigen Album »Songs of Resistance 1942–2018«, mit dem Ribot seiner ohnmächtigen Wut über die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten wenigstens die Macht politischer Widerstandslieder entgegensetzen wollte. Zartbesaiteten kann es durchaus die Tränen in die Augen treiben, wie Waits da mit seinem arg schütter gewordenen Kämpferorgan, ungeschönt von jeder tontechnischen Kosmetik, das alte Partisanenlied »Bella Ciao« intoniert, zu sparsam arrangierten Klängen auf der Gitarre, dem Banjo und der Mundharmonika.

»Ribot schreibt und spielt freilaufende Musik. Er unterdrückt keinen einzigen seiner musikalischen Impulse, lässt aber auch niemals einen einzelnen Instinkt allein das Steuer übernehmen. Man könnte sagen, dass sein Humor sehr hohen moralischen Standards genügt.« Diese Charakterisierung verdankt Marc Ribot einem Wahlverwandten, dem Gitarristen und Sänger Arto Lindsay, der mit seinen splitterscharfen Glasbruch-Sounds auf der E-Gitarre noch viel intellektueller und dekonstruktivistischer zu Werke geht als Ribot selbst, dafür aber mit glockenheller Tenorstimme schönste, zarteste Bossa-Songs singt.

Der »hohe moralische Standard« von Ribots Humor, auch sein besonderer Witz, haben gewiss auch mit seiner jüdischen Herkunft zu tun. Ein Urgroßvater sei Rabbi in einer Kleinstadt nahe Minsk in Belarus gewesen, berichtet Ribot, und »meine Großeltern haben Brüder, Schwestern, Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten im Holocaust verloren«. Seine jüdische Identität lebt Marc Ribot nicht orthodox aus, aber doch sehr bewusst.

So war er eine der prägenden Figuren der Radical Jewish Culture, einer Kunstbewegung im New York der Neunzigerjahre, deren Aktionszentrum die Knitting Factory in der Lower East Side und deren Galionsfigur der Saxofonist John Zorn war. Zum illustren Kosmos der Zorn-Musiker gehört Ribot weiterhin. Unvergessen, wie er bei dessen »Bagatelles-Marathon« wenige Wochen nach Eröffnung der Elbphilharmonie im März 2017 unter dem ekstatischen Dirigat des Komponisten, der ihm förmlich beinahe auf dem Schoß saß, einige der scharfkantigen Zorn’schen Musikminiaturen aus seiner Gitarre meißelte.

John Zorn (rechts) und Marc Ribot in der Elbphilharmonie (2017)
John Zorn (rechts) und Marc Ribot in der Elbphilharmonie (2017) © Claudia Höhne

Unberechenbar und unangepasst

Wandlungsfähig sein und doch unverwechselbar bleiben – in dieser ästhetischen Disziplin brillieren auch Ribots Reisegefährten auf seinem »Reflektor«-Abenteuer in der Elbphilharmonie. Mit einigen von ihnen ist er seit Jahrzehnten verbunden. So hat er hat extra für dieses Festival seine legendären Bands Rootless Cosmopolitans und Los Cubanos Postizos revitalisiert. In beiden spielt wie vor 30 Jahren Anthony Coleman Keyboards, der ein sehr eigenes Terrain zwischen Abstraktion, Blues und Groove bestellt, ein nicht nur musikalisch eminent kluger Ribot-Kampfgenosse aus den Tagen der Radical Jewish Culture.

Die beiden Schlagzeuger Ches Smith und Chad Jones, gleich in vier Bands des »Reflektors« zu hören, sind wahre Wunderwesen in Sachen Präzision und Unberechenbarkeit. Der Bassist und Elektronikmusiker Shahzad Ismaily unterläuft mit Ideenreichtum und mysteriösen Klangerfindungen alle Erwartungen an die herkömmliche Rolle eines Begleiters. Mit Tomeka Reid, Mary Halvorson und Silvia Bolognesi bringt Ribot auch drei starke Improvisatorinnen mit nach Hamburg. Sie alle dürften die Herzen von Menschen, die das Unangepasste lieben und die Disziplin wahrer Freigeister zu schätzen wissen, im Sturm erobern.

 

 

Dieser Artikel erschien im Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 3/2024)

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