Text: Regine Müller, Dezember 2024
Viele große Dichter und Denker haben über das Phänomen des Spielens nachgedacht. Besonders konzise fasste Friedrich Schiller in »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« die zentrale Bedeutung des Spielens in Worte: »Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« Ähnlich knapp hielt es (angeblich) William Shakespeare: »Arbeit, Gebet, Mahl, Schlaf, Spiel, das sind die fünf Finger unserer Lebenshand.«
Für die Kunst ist das Moment des Spiels wesentlich; bei den performativen Künsten, im Theater, in der Oper und im Konzert ist das Wort »spielen« sogar das Synonym der Berufsausübung: Man spielt ein Instrument, ein Musikstück, eine Rolle. Dass es dabei auch ernst zugehen kann, ist kein Widerspruch, sondern eben Teil der »vollen Bedeutung des Worts Mensch«. Jede ambitionierte Kunstanstrengung ist mit der Formel des spielerischen Ernsts wohl am treffendsten zu beschreiben. Eine Haltung, die das Äußerste wagt und offen ist für andere, neue Wege, mühsamere vielleicht oder überraschende. Eine Haltung, die so lange sucht, bis das Ergebnis am Ende wieder leicht wird, selbstverständlich, eben spielerisch.
Die Kunst des Menschseins
Einen langen Entwicklungsweg spielerischer Suche nach neuen Wegen hat das Projekt »The Art of Being Human« (Elbphilharmonie Großer Saal, 12.3.2025) zurückgelegt, und nicht zufällig ist schon der Titel ein Spiel, nämlich eines mit Bedeutungen, denn er kann sowohl »Die Kunst, menschlich zu sein« bedeuten als auch »Die Kunst des Menschseins«. Das Projekt vereint das famose Berliner Gambenensemble Phantasm um seinen Gründer Laurence Dreyfus mit einer Gruppe von Tänzerinnen und Tänzern, die – inmitten einiger Skulpturen des Bühnenbildners Alexander Polzin und zu den herben Klängen alter englischer Consortmusik – bewegte Tableaus archaischer, urmenschlicher Konstellationen kreieren.
Musik aus anderen Sphären
Die Performance beginnt in fast völliger Dunkelheit: Eingehüllt in weiße Tücher, werden leblos scheinende Körper hereingeschleift und sanft zwischen fünf ebenfalls verhüllte Skulpturen gebettet. Auf den felsenartigen Gebilden werden später die Musikerinnen und Musiker sitzen. Zunächst spielt eine einzelne Gambe, dann stimmen die vier anderen in den Satz »In Nomine Trust« von Christopher Tye ein. Das Werk des 1505 geborenen Komponisten ist die älteste Musik dieses Abends, der chronologisch über William Byrd und John Dowland fortschreitet bis zu Henry Purcell, Jahrgang 1659.
Für das Gambenensemble Phantasm gehört die englische Consortmusik der Renaissance und des Frühbarock zum Kernrepertoire. »Aber viele Menschen haben heute gar keine Ahnung von diesem Repertoire«, sagt Laurence Dreyfus. »Das ›In nomine‹ von Orlando Gibbons etwa, entstanden um 1600, ist ein Höhepunkt englischer Consortmusik. Vielleicht klingt das für manche Ohren heute sehr zeitgenössisch, wie eine Musik aus anderen Sphären.« Dreyfus zufolge besteht das Faszinosum dieser alten Musik auch in der Stimmführung, die keine Aufteilung in Melodie und Begleitung kennt: »Da herrscht Demokratie unter den verschiedenen Stimmen. Das deutsche Publikum ist mit dieser Art von Mehrstimmigkeit durch die Tradition von Bach und Schütz eigentlich vertraut, trotzdem fühlen sie sich darin nicht gleich zu Hause. Dann gibt es aber auch noch diese besondere Art der Dissonanz-Behandlung. Man hat damals eben sehr experimentell komponiert. Als exotisch wird zudem oft die Besetzung erlebt, Gamben sind ja keine Selbstverständlichkeit mehr – und dann gleich fünf davon!«
Trailer: »The Art of Being Human«
In echter Gemeinschaft – Musik und Tanz
Auf der Bühne erwachen mit der Musik langsam die Körper der fünf weiß gewandeten Tänzer:innen, dann nehmen sie Kontakt mit dem Gambenensemble auf: Die Instrumentalisten werden bewegt und müssen sich selbst bewegen, sich etwa blind nach hinten fallen lassen, sicher aufgefangen von den Tänzer:innen. Es sind gruppendynamische Prozesse in abstrahierter Form zu erleben; mit der Zeit kristallisiert sich eine Opfer-Figur heraus, die später jedoch das Kommando an sich zu reißen scheint. Zwischendurch schweigt die Musik auch einmal, einer der Tänzer singt ein syrisches Lied, dann wieder erzeugen die Musiker:innen trockene, rhythmische Geräusche. Und sie sind immer wieder in Bewegung.
Laurence Dreyfus war sich dieser szenischen Herausforderung für sich und sein Ensemble von Anfang an bewusst: »Wir haben schon zuvor Produktionen mit Tanz gemacht, aber das war barocker Tanz, den wir begleitet haben. Diesmal wollte ich wirklich Teil der Choreografie sein, nicht die Begleitband, sondern eine echte Gemeinschaft mit den Tänzer:innen, ein Gegenüber für sie.«
Das brachte eine besondere Schwierigkeit mit sich: Die Partituren der mehrstimmigen Consortmusik sind so kompliziert, dass es fast unmöglich ist, sie auswendig zu spielen. Doch Notenständer zu verwenden, kam aus szenischen Gründen nicht infrage. »Zumal es für das Publikum sehr interessant ist, die Mehrstimmigkeit immer wieder anders zu hören, wenn wir uns in unterschiedlichen Konstellationen über die Bühne bewegen«, sagt Dreyfus. »Aber für uns ist es eine echte Herausforderung, dabei das subtile Zusammenspiel hinzukriegen. Wir spielen ja häufig die gleichen Stimmen, aber eben versetzt, da kann man sehr leicht ausrutschen und plötzlich in die Stimme eines anderen Musikers geraten.« Die Lösung? Es blieb dem Ensemble tatsächlich nichts anderes übrig, als die hochkomplexen Partituren mit all ihren Wiederholungsschleifen auswendig zu lernen.

Eine besondere Skulptur
Eine entscheidende Rolle auf der Bühne spielen auch die skulpturalen Elemente, die stets neue Konstellationen bilden. Geschaffen hat sie der Berliner Bildhauer, Maler, Grafiker, Kostüm- und Bühnenbildner Alexander Polzin, der sich immer wieder intensiv mit Musik und außergewöhnlichen Konzert-Settings auseinandersetzt. Dreyfus und dem Ensemble Phantasm ist Polzin schon lange verbunden. »Der Austausch mit Musikern spielt eine große Rolle in meiner Arbeit. Als ich mit der Choreografin Sommer Ulrickson einmal ein Konzert von Phantasm besucht habe, stand gleich im Raum, dass diese Musik nach Bewegung fragt. Und beim Ensemble sind wir mit dieser Idee spontan auf ein positives Echo gestoßen.«

So haben die drei das Projekt gemeinsam entwickelt, »in dem Bewusstsein, dass diese Zusammenarbeit ein Geben und Nehmen und auch eine Suche nach Kompromissen ist«, sagt Polzin. Die Bühnen-Elemente beispielweise musste er so entwickeln, dass die Musiker darauf sitzen und ihre Instrumente spielen können. »Über solche Fragen denke ich sonst natürlich nicht nach, wenn ich eine Skulptur entwerfe. Hier habe ich nach einem Element gesucht, das die beiden Gruppen miteinander verbinden kann. Ursprünglich schwebte mir eine einzige, massive Skulptur vor, doch dann kristallisierte sich heraus, dass ich sie in fünf Teile teile, sodass jedem Tänzer und Musiker ein Teil zugeordnet ist. Die Teile funktionieren autonom und finden erst am Schluss wieder zu einer einzelnen Skulptur zusammen.«
Eine Inspiration für diese Skulptur, auf der sich am Ende ineinander verschlungene menschliche Körper bewegen, war Théodore Géricaults berühmtes Gemälde »Das Floß der Medusa«. Es zeigt verdurstende, von der Welt vergessene Schiffbrüchige, gemalt nach einem Drama, das sich 1816 tatsächlich vor der westafrikanischen Atlantikküste ereignet hat und heute wieder von trauriger Aktualität ist. Polzin ist fasziniert vom seltsamen Widerspruch des Dargestellten: »Die Leiber der Menschen auf dem Floß sind von dem wochenlangen Hunger überhaupt nicht gezeichnet, sondern stehen in Saft und Kraft. Die ganze Szenerie steht auf der Kippe zur erotischen Darstellung. Zeigt Géricault das pure Grauen oder eine Orgie? Fressen die sich auf, oder lieben die sich? Diese Ambiguität ist mir wichtig. So ist auch unser Stück.«
Dieser Artikel erschien im Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 1/2025).