Text: Albrecht Selge, 10.09.2024
Daß der Raubmörder einen Lustmörder unbegreiflich findet, ist ebenso einzusehn, wie daß der Geschäftsreisende den Vergnügungsreisenden nicht verstehen kann.« Diese reißerische These ist einer von vierzehn Aphorismen Arnold Schönbergs, die 1911 in »Gutmanns Konzert-Taschenbuch« erschienen. Schönbergs kreative Energie war ungemein vielseitig: Er schrieb viel, nicht nur Theoretisches wie die berühmte »Harmonielehre«, sondern gelegentlich auch derart Literarisches. Und als Maler schaffte er es sogar zwischen die erlesenen Almanachdeckel des »Blauen Reiter«; wobei das eine eigene Geschichte wäre, diese Sache mit Schönbergs Karriere in der bildenden Kunst und seiner Freundschaft mit Wassily Kandinsky, die später wegen dessen kolportiertem Antisemitismus zerbrach.
Im Fokus: Arnold Schönberg
Die Elbphilharmonie widmet Arnold Schönberg anlässlich seines 150. Geburtstags einen Schwerpunkt in der Saison 2024/25, der alle Schaffensperioden beleuchtet.
Raub- oder Lustmörder?
Zu welcher Kategorie würde man nun, wenn man selbst mal fragen darf, den weltberühmten Musiker Arnold Schönberg zählen: zu den Raub- oder den Lustmördern unter den Komponisten, zu den Geschäfts- oder den Vergnügungsreisenden der Musikgeschichte?
Als Argument sowohl fürs eine als auch fürs andere könnte man die Antwort gelten lassen, die der ins k.u.k. Heer eingezogene Komponist 1917 auf die Frage eines Stellungskommissärs gab, ob er der Schönberg sei (welcher kürzlich, so darf man frei ergänzen, durch Einführung der Atonalität die schöne deutsche Musikgeschichte abgemurkst hatte): »Einer hat es sein müssen, keiner hat es sein wollen. Da habe ich mich halt hergegeben.«
Schönbergs nicht ganz gerechtfertigter Ruf als großer Verkopfter der klassischen Musik würde eher auf den rational kalkulierenden Raubmörder setzen lassen. Andererseits spräche für den innerlich getriebenen Lustmörder, dass Schönberg immer wieder emphatisch das unbedingte Müssen seines Tuns betonte. Nicht nur in jener Antwort an den habsburgischen Offizier, sondern auch in seiner Umdeutung des geflügelten Wortes »Kunst kommt von Können«, 1910 in seinem Aufsatz »Probleme des Kunstunterrichts«: »Ich glaube: Kunst kommt nicht vom Können, sondern vom Müssen.« Darin wiederum steckt neben Müssen ein zweiter Schönberg-Schlüsselbegriff: das Glauben. Oder eben: der Glaube. Denn auch die religiöse, gottsucherische Dimension spielt immer eine Rolle bei ihm.
QUICKLEBENDIGER »VORLÄUFER«
Im Übrigen mag die Frage nach der richtigen Kapitalverbrechenskategorie gar nicht so willkürlich schöngeistig sein, wie es zunächst scheinen könnte. Denn Schönbergs Leben war von mörderischen Ereignissen umgeben, von tatsächlichen, von literarisch fantasierten und von gegen die eigene Person gerichteten. Ein erschütterndes biografisches Erlebnis war 1907 der Suizid des jungen Malers Richard Gerstl, des Liebhabers von Schönbergs erster Frau Mathilde, die soeben von Schönbergs Schüler Anton Webern überredet worden war, zu ihrem angetrauten Gatten zurückzukehren. Gerstl, mit dem Schönberg zu Beginn ihrer Bekanntschaft geistig eng verbunden gewesen war, erhängte sich in seinem Atelier.
Dass dann Schönbergs eigene zwischenzeitliche Maler-Karriere ausgerechnet in den Jahren nach der Gerstl-Tragödie richtig Fahrt aufnahm, hat vielleicht nicht nur einen überraschend praktischen Grund, den Wilhelm Sinkovicz in seiner gut lesbaren Biografie »Mehr als zwölf Töne« (Zsolnay, 1998) aufzeigt: nämlich dass Schönberg sich durch die erstaunlich hohen Verkaufspreise seiner Porträts eine Lösung akuter Finanzprobleme erhoffte. Vielmehr schreit doch eigentlich der mehrjährige Maler- Schwenk nach der Selbstauslöschung des sexuellen Rivalen, die Schönberg heftig mitnahm, nach tiefgründigen Seelenspekulationen im Geiste des Wiener Schönberg-Zeitgenossen Sigmund Freud …
»Schönberg est mort«, sollte dann im Jahr 1951 ein junger Komponist von bemerkenswerter krimineller Energie schreiben, der später auch noch die Opernhäuser in die Luft sprengen wollte. Die Behauptung von Pierre Boulez, dass Schönberg tot sei, war rein faktisch fraglos richtig, denn der Komponist war im Sommer 1951 mit 76 Jahren gestorben. Und zwar an einem Freitag, dem Dreizehnten, was für einen Menschen, der durchaus abergläubisch, gegen Ende seines Lebens angeblich auch paranoid war und jedenfalls sich vor der Zahl 13 fürchtete, selbst dann tragikomisch-bizarr wäre, wenn dieser Mensch nicht auch noch als »Erfinder der 12-Ton-Musik« weltweit berühmt-berüchtigt gewesen wäre.
Aber dass bei Schönberg eben alles komplizierter ist und jede Pointe nochmal um die Ecke geht, zeigt sich auch darin, dass er im Jahr 1874 ebenfalls an einem Dreizehnten geboren worden war, in dem Fall einem Sonntag. Und ein bemerkenswerter Knick ums Eck ist ebenso die verrufene Zwölfton-Methode selbst, also die systematische Reglementierung des zuvor ein paar aufregende Jahre lang anarchistisch freien »atonalen« Komponierens. Denn diese Methode war eher eine kreativ-willkürliche Setzung, ja Schöpfung von Schönberg als eine irgendwie historisch zwingende »Entdeckung«.
Boulez ging es beim Verfassen seiner Sterbeurkunde natürlich nicht um physiologische Fakten, sondern darum, den als Übervater der »modernen Musik« geltenden Schönberg abzuservieren. Und zwar aufgrund dessen diverser Rückständigkeiten, etwa dem konservativ scheinenden Beharren auf Inspiration oder Ausdruckswillen, einer bis in Schönbergs Spätwerk spürbaren romantischen Expressivität. Eine Eigenschaft, die heute den meisten Konzertbesuchern nicht unbedingt als Mangel, sondern eher als Vorzug erscheinen wird.
»Hüten wir uns, Schönberg als eine Art Moses anzusehen, der im Angesicht des Gelobten Landes stirbt; es ist an der Zeit, den Fehlschlag zu neutralisieren.«
Pierre Boulez in seinem Aufsatz »Schönberg est mort«
Wenn heutzutage mehr Schönberg-Musik denn je auf den Konzertprogrammen steht, dann liegt dieser alte Witz nahe: »Gott ist tot.« (Nietzsche) – »Nietzsche ist tot.« (Gott) Schönberg hätte es natürlich eleganter oder zumindest umständlicher formuliert als lediglich ein läppisches »Boulez ist tot«. Denn er schrieb ja über sein eigenes Dasein als »Vorläufer« bereits 1923, also zwei Jahre, bevor Boulez überhaupt geboren wurde: »Aber ich bin ohnedies nicht sehr besorgt: meine Nachläufer werden mich bald nicht mehr einholen, da ihnen mein Atem ausgehen wird.«
Bürgerschreck und Langweiler
Immerhin zeigt das notorische Boulez-Zitat, dass Arnold Schönberg bei seinem Tod bereits ein Klassiker war, vielleicht sogar (wir denken ans Nietzsche-Zitat!) ein Gott. Nur dann lohnen ja Sockelstürze und Blasphemien. Darüber hinaus verweist die ganze Angelegenheit darauf, dass Schönberg schon früher ein doppeldeutiges Bild abgab. Daran hat sich nichts geändert.
Einerseits ist sein Name gerade für Menschen, die nur sporadisch mit klassischer Musik in Kontakt stehen, der Inbegriff des musikalischen Bürgerschrecks. Lang ist die vom Hörensagen bekannte Liste der seinerzeitigen Skandale. Bereits 1902 kam es bei der Uraufführung des Streichsextetts »Verklärte Nacht« (das uns heute als »noch traditionell schön klingender früher Schönberg« erscheint) zu Unmutsbekundungen von Teilen des Publikums. Und als 1907 das 1. Streichquartett d-Moll uraufgeführt wurde (also ebenfalls ein Werk, das bei aller harmonischen Raffinesse noch einen Grundton hatte), notierte der Schönberg-Schüler Paul Stefan: »Das Werk schien vielen unmöglich, und sie verließen während des Spiels den Saal; ein besonders witziger sogar durch den Notausgang. Als auch nachher noch vernehmlich gezischt wurde, ging Gustav Mahler, der unter dieser Zuhörerschaft saß, auf einen der Unzufriedenen los und sagte in seiner wunderbar tätigen Ergriffenheit und gleichsam für die entrechtete Kunst aufflammend: ›Sie haben nicht zu zischen!‹ – Der unbekannte, stolz vor Königen des Geistes (vor seinem Hausmeister wäre er zusammengebrochen): ›Ich zische auch bei Ihren Sinfonien!‹«
Zu diesen fast Folklore gewordenen Skandalerzählungen wäre Differenzierendes anzumerken: etwa dass laut einem Rezensenten bei einem weiteren Skandalkonzert 1908 der Großteil des Publikums sich neutral verhalten habe und sich lediglich kleine Gruppen von Schönberg-Anhängern und Schönberg-Gegnern gegenseitig hochgeschaukelt hätten. Die nicht genug zu lobende Konzertgängertugend des Es-sich-einfach-mal-Anhörens könnte also schon im Zeitalter der Krawalle verbreiteter gewesen sein, als es heute den Anschein hat.
Was den größten Wiener Konzertskandal angeht, das sogenannte Watschenkonzert am 31. März 1913 im Goldenen Saal des Musikvereins, so war es nicht Arnold Schönbergs Kammersinfonie Opus 9, die den Krakeel auslöste (sie hatte ihren eigenen Aufruhr bereits bei ihrer Uraufführung sechs Jahre zuvor gehabt). Vielmehr standen hier, neben Musik von Zemlinsky und Mahler, auch Werke der treuen Schönberg-Schüler Anton Webern und Alban Berg auf dem Programm. Während Weberns eröffnende »Sechs Stücke für Orchester« anscheinend noch durchgingen, ließen zwei der »Fünf Orchesterlieder nach Ansichtskartentexten von Peter Altenberg« von Alban Berg einigen Hörern die Sicherungen durchbrennen. Auslöser war offensichtlich die irritierende Kontrastwirkung, dass der riesige Orchesterapparat nicht etwa die erwarteten Riesenklänge hervorbrachte; Musik also in der Überwältigungsart von Schönbergs »Gurre-Liedern«, die der Komponist zwar schon kurz nach 1900 entworfen hatte, die aber aufgrund ihrer gewaltigen logistischen Ansprüche erst einige Wochen vor dem »Watschenkonzert« uraufgeführt worden waren. Und zwar mit ganz schönberg-untypischem Riesenerfolg!
Die Komposition von Berg hingegen entlockte, im Geist seines Lehrers Schönberg und von diesem dirigiert, dem Riesenorchester zu den verknappten Altenberg-Sätzen radikal feinstziselierte Klänge in freier (A)Tonalität. Das muss für Teile des überrumpelten Publikums wie ein dreist provozierendes »Hurz!«-Erlebnis gewesen sein. Kaum mehr vorstellbar angesichts der betörenden, farbenreichen Schönheit von Bergs Orchesterliedern, die das heutige Ohr (hoffentlich!) wahrnimmt und genießt.
Kaum begreiflich auch, dass ein anderer Avantgardist der 1950er-Jahre, Olivier Messiaen, aus seiner synästhetischen Klangwahrnehmung die Musik Arnold Schönbergs als »grau« klassifizierte. Und ebenso wenig vorstellbar, dass die Persönlichkeit jenes Mannes im Zentrum so heftiger ästhetischer Stürme dem Zeitgenossen Arthur Schnitzler schlicht langweilig vorkam. Er notierte im November 1913, also dem Herbst des Gurre- und Watschenjahres: »Nicht übermäßig gescheidt, aber ein Blender; irgendwie nixenhaft, (wie Olga richtig findet) – seelenlos –«
Aber vielleicht ist selbst das private Langweilertum eine der erstaunlichen Facetten an diesem Umstürzler, der als Mensch von bemerkenswerter Vielseitigkeit war: versierter Tennisspieler, Hobby-Bastler und Tüftler (der etwa ein Schachspiel für vier Spieler entwickelte), auch humorvoller Geschichtenerzähler für seine Kinder (nach deren Lieblingsgeschichte, »Die Prinzessin«, entstand übrigens 2006 ein hübsches Bilderbuch von Peter Schössow; die zugrunde liegende originale Tonaufnahme des Erzählers Schönberg ist auf der Webseite des Wiener Schönberg Centers, www.schoenberg.at, und auch auf YouTube leicht zu finden).
Biografische Ankerpunkte
Einige biografische Ankerpunkte: Geboren 1874 in der Wiener Leopoldstadt in eine jüdische Familie, die musikliebend war, aber keineswegs Musikerdynastie (der Vater Schuhmacher, die Mutter immerhin von jüdischen Kantoren abstammend). Dass Arnold Schönbergs musikalische Ausbildung eher erratisch verlief und er auf keinem Instrument ein Meister war wie der etwa gleichaltrige Max Reger als Organist oder der wenige Jahre jüngere George Enescu als Violinvirtuose, mag mitverantwortlich dafür sein, dass sein Zugang zur Musik in erster Linie kompositorisch war, nicht »musikantisch«.
Als unbestrittener Lehrer, der sich gar wagnerhaft als »Meister« ansprechen ließ, führte er die sogenannte »Wiener Schule« (manchmal auch als »Zweite« nummeriert, als hätten bereits Haydn, Mozart und Beethoven eine »Schule« gebildet). Obwohl deren Zusammenhalt durchaus sektenhafte Züge trug, inklusive des strikten Freund-Feind-Denkens, brachte sie charismatische Künstlerpersönlichkeiten wie eben Webern und Berg hervor; in späteren Jahren durchlief auch die Karriere von Hanns Eisler den Schönberg-Zirkel, und ebenso die von Viktor Ullmann, der später in Auschwitz ermordet wurde. Und dieses Schicksal von Ullmann lässt einem dann auch alle Kapitalverbrechens-Witzeleien vom Beginn des Essays im Halse steckenbleiben, genau wie das Leid so vieler anderer Nazi-Opfer in Schönbergs Umfeld, etwa seines jüngeren Bruders Heinrich, eines Operettensängers, den die Gestapo 1941 zu Tode quälte.
Schönbergs Verhältnis zum Judentum ist ein Stoff, der Bücher füllen kann. Nachdem er sich als junger Mann, noch vor der Jahrhundertwende hatte taufen lassen, brachten ihn antisemitische Erfahrungen bereits 1921 dazu, sich ausdrücklich zu seiner jüdischen Herkunft zu bekennen. Auf Kandinskys Wiederannäherungsversuch reagierte er wegen dessen Judenfeindlichkeit kompromisslos abweisend, prophezeite auch eine »neue Bartholomäusnacht«, die aus der Glut des Judenhasses entstehen würde. Und als er 1933 Deutschland verließ, rekonvertierte er in einem bewussten Akt zurück zum Judentum: »Ich bin seit langem entschlossen, Jude zu sein«, schrieb er an Anton Webern. Und half von Amerika aus, wohin er 1934 hatte emigrieren können, mit großem Einsatz zahlreichen Juden bei der Flucht aus Nazi-Deutschland und Europa.
»Ich war seit 14 Jahren vorbereitet auf das, was jetzt gekommen ist. Ich bin seit langem entschlossen, Jude zu sein.«
Arnold Schönberg an Anton Webern
Der grassierende Judenhass war ein besonders scheußliches Ingrediens, das eben auch zum seligen Wien-um-1900-Klischee gehört. Diese Fin-de-siècle-Welt ist natürlich die Sphäre, in der sich der musikalische Umwerfer Schönberg »ereignete«. Immer wieder sind naheliegende Parallelen des großen Musik-Reinigers Schönberg zu umliegenden Phänomenen gezogen worden, etwa zum »Ornament ist Verbrechen«-Architekten Adolf Loos oder dem Sprachdenker Karl Kraus, für den die daher geplapperte Phrase eine Straf- und Gräueltat war. Oder eben zu Wassily Kandinsky, der auf absoluter Weißheit Farben und Formen quasi vollkommen neu entstehen ließ.
Der Musikwissenschaftler Hermann Danuser hat zu derlei Parallelen allerdings gestreng darauf hingewiesen, dass schon Schönberg selbst »einen Kunst-Mythos der Wiener Moderne nährte, der als Motor seines Schöpferwillens zu respektieren ist, von einer um Distanz bemühten Historiografie aber nicht einfach übernommen werden darf«. In unserem nichtwissenschaftlichen Zusammenhang hier reicht es wohl aus, darauf hinzuweisen, dass es sich bei den genannten Verwandtschaften um ganz freie Assoziationen zu doch sehr unterschiedlichen Dingen handelt. Dem freien Hörer jedoch, der zu keiner Wissenschaftlichkeit verpflichtet ist, kann es durchaus auf die Sprünge helfen.
Schaffensphasen
Das Lebenswerk Schönbergs sei hier schließlich, nochmals nach Professor Danuser, in vier orientierende Etappen unterteilt:
Die erweitert-tonal-moderne Phase bis etwa 1908
Zu dieser Phase kann man das Sextett »Verklärte Nacht«, das 1. Streichquartett und den Koloss der »Gurre-Lieder« zählen.
Die frei-atonal-expressionistische Phase bis Anfang der 1920er-Jahre
In dieser Phase entstand ein betörend farbenreiches Werk wie die »Fünf Orchesterstücke«, aber auch das ambitionierte Oratorium »Die Jakobsleiter«, um dessen Gestaltung Schönberg tatsächlich ein Leben lang rang wie Jakob mit dem Engel (und das vielleicht, da wir außerhalb der biblischen Welt eben keinen Gottesboten niederringen können, Fragment bleiben musste).
Die zwölftönig-klassizistische Phase bis Anfang der 1930er-Jahre
In dieser Phase komponierte Schönberg einigermaßen strikt nach der von ihm »erfundenen« Methode. Sie spiegelt sich, entgegen der Zwölfton-Dominanz im Schönbergklischee, im Konzertleben eher wenig wider.
Die zwölftönig- wie neotonal-engagierte Phase
Diese Phase ist vielleicht die ergiebigste Schönberg-Fundgrube für heutige Hörer. Denn obwohl der Komponist hier seiner erfundenen Methode treu blieb, begriff er sie frei und ausdrucksfreudig und auch gelassen gegenüber tonalen Zufällen. Wie viel von dieser Relaxtheit auf das US-amerikanische Umfeld zurückgeht, in dem Schönberg sich seit 1934 befand (und wo er sich, nebenbei, mit einem Künstler wie George Gershwin anfreundete), und wie viel auf sein eigenes künstlerisches Temperament, das eben weit mehr als bloß »fortschrittlich« war: egal. Auf jeden Fall gilt für das Violinkonzert von 1936 ebenso wie für das Klavierkonzert von 1942 das, was Schönberg nachdrücklich für all seine Kunst seit den 1920ern in Anspruch nahm – dass sie nämlich keine Zwölfton-Kompositionen seien, sondern Zwölfton-Kompositionen. Die Methode, das Hilfsmittel steht niemals über dem Zweck, der inspirierten Schöpfung eines Kunstwerks.
Die Umständlichkeit der Phasen-Benennungen weist allein schon auf die Vielfalt, Komplexität, Widersprüchlichkeit der subsumierten lebendigen Werke hin. Bemerkenswert bleibt bei all dem eines: So omnipräsent der Name Arnold Schönberg als Inbegriff der musikalischen Moderne für Otto und Frieda Normalhörer ist, so wenig konkret haben viele doch seine Musik im Ohr. Das ist ein bezeichnender Unterschied nicht nur zum »Sacre du printemps« von Igor Strawinsky, der oft und durchaus zweifelhaft zu Schönbergs Antipoden stilisiert wurde, sondern auch zur Präsenz seiner wichtigsten Schüler in unserer Klangvorstellung. Bei Berg denken wir an den Knaller »Wozzeck« und das ergreifende Violinkonzert, bei Webern haben wir immerhin oberhalb aller konkreten Werkebene eine fixe Vorstellung seiner Miniaturen: dreimal pling, einmal fieps, vorbei, so ungefähr.
Aber wie ist es bei Schönberg, dem Legendären? Da kann nun eines dieser bisweilen leidigen Jubiläen Gutes bewirken: indem wir endlich die Musik des Mannes kennenlernen, den jeder kennt. Also, vergessen Sie Zwölfton, wenigstens die Betonung darauf, und hören Sie einfach zu.
Dieser Artikel erschien im Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 3/24).