Alexandre Kantorow

Interview mit Alexandre Kantorow

»Vermutlich bin ich eher introvertiert« – Starpianist Alexandre Kantorow über große Hände, seine Liebe zu Brahms und einen legendären Moment im Regen von Paris.

Interview: Bjørn Woll

 

Es könnte einem fast schwindelig werden, derart steil und schnell hat sich die Karriere von ­Alexandre Kantorow entwickelt, seit der Franzose 2019 im Alter von 22 Jahren den Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau gewonnen hat. Dieser neben dem Chopin-Wettbewerb in Warschau wohl wichtigste Preis für Pianist:innen wirkte wie ein Katalysator für die ohnehin schon aufstrebende Karriere Kantorows, der aus einer Musikerfamilie stammt und bei Pierre-Alain Volondat, Igor Lazko, Frank Braley und Rena Shereshevskaya studiert hat.

2022 bejubelte die »New York Times» ihn als »neuen Stern am Klassik-Firmament«, »Der Standard« sprach von einem der »besten Pianisten der Welt«, und auch als »Koloss« und »als der wiedergeborene Liszt« wurde er schon bezeichnet. In der Saison 2023/24 hat er gleich mehrere Debüts bei großen Orchestern gegeben, darunter das Los Angeles Philharmonic, die Münchner Phil­harmoniker und das Orchestre Métropolitain de Montréal unter Yannick Nézet-Séguin. Mit John Eliot Gardiner und dem Orchestre Philharmonique de Radio France hat er die beiden Klavierkonzerte von Brahms interpretiert, daneben gab er eine ganze Reihe von Rezitalen in Asien, mit Stationen in Seoul, Peking, Schanghai und Tokio. Im vergangenen August stand er in Salzburg als Solist auf der großen Festspielbühne, und schon zuvor hat er bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris vor einem Millionen-Publikum Ravels »Jeux d’eau« gespielt – was ironischerweise perfekt zum strömenden Regen und dem fließenden Wasser unter der Seine-Brücke passte.

Schon früh in seiner Laufbahn als international begehrter Künstler hat Alexandre Kantorow immer wieder Station in Hamburg gemacht. Nun ist er in der Saison 2024/25 als Residenzkünstler der Elbphilharmonie gleich in mehreren Konzerten zu erleben.

Alexandre Kantorow / Tugan Sokhiev / Münchner Philharmoniker (30.10.2024)
Alexandre Kantorow / Tugan Sokhiev / Münchner Philharmoniker (30.10.2024) © Claudia Höhne

Alexandre Kantorow in der Elbphilharmonie

Als Residenzkünstler gestaltet Alexandre Kantorow in der Saison 2024/25 gleich mehrere Konzerte in Hamburg.

Interview mit Alexandre Kantorow

Die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele ist eines der größten Events weltweit. Wie haben Sie selbst diesen Moment erlebt?

Das war verrückt! Vor allem hat es mich gefreut, dass ich bei der Auswahl des Stücks frei war und dass es keine Schnitte fürs Fernsehen gab. Ich konnte die klassische Musik also so zeigen, wie sie ist, weil nicht versucht wurde, sie vermeintlich cooler zu machen. Der Tag war aber auch aufregend und anstrengend. Ich musste sieben Stunden warten, bis ich auf die Brücke durfte. Es gab strenge Sicherheitsbestimmungen, außerdem einige Probleme mit dem Klavier durch den Regen. Gleichzeitig hat der Regen aber auch für eine besondere Atmosphäre gesorgt, weil alle ein bisschen enger zusammengerückt sind.


Ein Millionenpublikum hat diesen Auftritt im Fern­sehen gesehen. Macht es für Sie einen Unterschied, ob Sie in einem Kammermusiksaal vor 800 Menschen spielen oder quasi vor der ganzen Welt?

Das war natürlich das größte Publikum, vor dem ich jemals gespielt habe. Und erstaunlicherweise war das gleich­zeitig ein ganz intimer Moment für mich, weil ich auf der Brücke allein am Klavier gesessen habe. Unter mir sind die Schiffe auf der Seine gefahren, von oben kam der Regen, dazu Ravels »Jeux d’eau« – das war irgendwie magisch.

Alexandre Kantorow bei den Eröffnungsfeierlichkeiten zu Olympia, Paris 2024
Alexandre Kantorow bei den Eröffnungsfeierlichkeiten zu Olympia, Paris 2024 © Sébastien Bozon / Getty Images

Ist es nicht schwierig, auf nassen Tasten zu spielen? Stelle ich mir ziemlich rutschig vor …

Morgens war ich noch etwas besorgt, weil die Wettervorhersage nicht gut war. Aber dann, hinter der Bühne, habe ich die Auftritte der Künstler vor mir gesehen. Dass ich ein Teil dieses großen Ganzen war, hat mich so beflügelt, dass all die kleinen Details, die sonst bei einem Konzert eine Rolle spielen, auf einmal viel weniger wichtig waren. Durch den besonderen Spirit an diesem Tag habe ich sogar weniger Druck gespürt als sonst bei einem Auftritt in einem Konzertsaal.


Johannes Brahms ist in Ihrem Repertoire – sowohl auf der Bühne als auch auf Platte – stark vertreten. Ist er aktuell Ihr Lieblingskomponist?

Sein Zweites Klavierkonzert habe ich schon als sehr junger Mensch gehört, es zählt zu den Stücken, die einen großen Einfluss auf mich hatten. Brahms’ Musik ist für mich vor allem sinnlich, sie entwickelt sich ganz organisch. Einige seiner besten Werke basieren nur auf ein paar Noten, die er dann wiederholt, verändert, transformiert. Sie sind wie die Wurzeln eines Baumes, aus denen sich ganz natürlich das gewaltige Geflecht aus Ästen und Blättern entfaltet. Dann ist da noch seine emotionale Seite. Brahms ist ja eher introvertiert, gibt nicht alles von sich preis, die Emotionen sind meistens kontrolliert. Nur an wenigen Stellen gibt er diese Kontrolle auf und lässt sich emotional gehen.


Sie spielen in Hamburg auch zwei seiner Klavier­quartette. Oft wird gesagt, dass diesem Komponisten die Kammermusik besonders am Herzen lag. Was verraten uns die Klavierquartette denn über Brahms?

Sie zeigen uns, dass er die Kammermusik genauso ernst nahm wie die großen Sinfonien, dass er sie mit der gleichen Ambition und Tiefe komponiert hat. Dafür holt er das Maximum aus den Instrumenten heraus. In den Klavierquartetten erreicht er durch die Art und Weise, wie er die Akkorde einsetzt, oft einen massiven Klang, der ungewöhnlich voll ist für Kammermusik. Für mich ist seine Behandlung des Klaviers auch ziemlich einzigartig, weil er ihm so viele verschiedene Facetten entlockt. Mal spielt es die Begleitung und lässt die Streicher singen, dann gibt es ganz intime Momente oder sinfonische Ausbrüche mit vollgriffigen Akkorden. Diese kompositorische Viel­seitigkeit macht Brahms’ Musik sehr fluide. Auch die Balance zwischen Klavier und Streichinstrumenten ist ihm beeindruckend gelungen, was bei Klavierquartetten nicht immer der Fall ist.

Alexandre Kantorow spielt Brahms

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Alexandre Kantorow
Alexandre Kantorow Alexandre Kantorow © Sasha Gusov

Ihr Debüt im Großen Saal der Elbphilharmonie haben Sie 2022 mit Teodor Currentzis gegeben, der ja für seine oft ganz besonderen Interpretationen bekannt ist. Was kann man im April 2025 für Brahms’ Klavierkonzert Nr. 2 von Ihnen beiden erwarten? Sie haben das Werk ja schon gemeinsam gespielt.

An Teodor Currentzis bewundere ich vor allem, wie viel Zeit er sich für die Musik nimmt. Oft gibt es vor Konzerten nur eine oder zwei Proben, aber er hat sich drei Tage Zeit genommen, um die richtige Balance zu finden. Er wollte, dass Klavier und Orchester wie ein Instrument klingen, in perfekter Harmonie schwingen. Außerdem wollte er einen anderen Klang, eben nicht den schweren, dunklen Klang, den wir von den alten Karajan- oder Furtwängler-Aufnahmen kennen. Ihm schwebte ein Brahms-Sound vor, der frischer und klarer ist. Auch am Rhythmus haben wir viel gearbeitet, weil der Rhythmus für Brahms eine große Rolle spielt. Es gibt in seiner Musik viele Tanzelement und Gesten, die nach vorne treiben. Außerdem achtet Currentzis sorgfältig auf die Farb­wechsel im Klavier. Dafür muss vor allem der Orchesterklang transparent sein, damit diese Farbwechsel überhaupt möglich sind.


Daniel Barenboim hat einmal gesagt, dass es auf dem Klavier überhaupt keine Farben gibt, dass der Pianist also die Illusion von Farben schaffen muss. Stimmen Sie zu?

Das ist die größte Herausforderung auf unserem Instrument. Wir haben keinen Bogen wie die Geiger, können kein Vibrato erzeugen. Wir können die Textur eines Tons nicht mehr verändern, sobald wir die Taste einmal gedrückt haben. Als hätten wir kleine Glocken, die langsam verklingen. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, einen Ton auf dem Klavier zu verändern: wie wir ihn anschlagen und wie viel Zeit wir zwischen Noten lassen. Dazu kommt noch das Pedal. Der Rest ist Illusion, das Spiel mit leichten Betonungen zum Beispiel oder eine ganz leichte Verschiebung der beiden Hände gegeneinander. Das ist auch der Grund, warum wir auf dem Klavier mehr Zeit brauchen, um Farb- und Stimmungswechsel zu erreichen. Ein Sänger oder Instrumentalist kann von einer Sekunde auf die an­dere die Farbe und den Ausdruck ändern, auf dem Klavier geht das nicht.


Bei Ihrer Elbphilharmonie-Residenz spielen Sie beinahe ausschließlich Komponisten des 19. Jahrhunderts. Sind Sie ein Romantiker?

Ich finde vor allem den Wechsel von der Klassik zur Romantik spannend. Im 18. Jahrhundert gab es einen tiefen Glauben an den Fortschritt der Menschlichkeit. Es gab nicht nur eine technologische, sondern auch eine gesellschaftliche Weiterentwicklung. Alles schien möglich. Im 19. Jahrhundert dann lernten die Menschen, dass sich diese Hoffnungen nicht alle erfüllt haben. Das hat zu einer Rückbesinnung auf Mythen und Legenden geführt, zu einem neuen Interesse am Okkulten, an all den fantastischen Dingen zwischen Himmel und Erde. Diese Rück­besinnung auf die Vergangenheit finden wir auch in der Musik, in der ersten Generation von Komponisten, die dezidiert zeitgenössische Künstler waren, sich aber gleichzeitig mit der Vergangenheit auseinandergesetzt haben, mit der Musik von Bach und Mozart.

Ein zweiter Punkt ist, dass es für uns heutige Interpreten einen direkteren Zugang zu den Romantikern gibt – sie sind uns noch nicht so fern wie die Klassiker. Es gibt eine Art Leuchtturm, der uns den Weg weist, wie wir ihre Musik spielen sollen. Ich taste mich zwar langsam in die Ver­gangenheit vor, aber weil wir so wenige Informationen da­rüber haben, fällt es mir manchmal noch schwer, die Wahrheit in dieser Musik zu finden. Aber ich suche weiter, meine Reise in diese Richtung ist noch nicht zu Ende.

 

Alexandre Kantorow
Alexandre Kantorow © Sasha Gusov

 

Sie wurden einmal als »wiedergeborener Liszt« bezeichnet, der für seine großen Hände bekannt war. Auf Fotos sehen auch Ihre Hände groß aus. Hilft das als Pianist?

Natürlich können große Hände helfen, bei Oktavgriffen oder kraftvollen Passagen, das ist offensichtlich. Auf der anderen Seite kann es mit großen Händen herausfordernd sein, innerhalb einer Phrase jeden Ton gleich und aus­geglichen zu spielen, weil die Länge der einzelnen Finger unterschiedlich sein kann. Ich habe zum Beispiel eher schlanke Hände, was es mir manchmal schwer macht, die richtige Balance für den Klang zu finden, der mir vorschwebt. Als Pianisten »kämpfen« wir auf unterschiedliche Weise mit unseren Händen und versuchen, die anatomischen Schwierigkeiten zu umgehen.
 

Liszt war auch ein Showman und Entertainer. Gilt das auch für Sie, oder sind Sie eher der introvertierte Typ?

Uff, sich selbst zu beschreiben, ist immer schwierig. Vermutlich bin ich eher introvertiert. Aber ich nutze die Musik und die Bühne, um mich zu öffnen. Wenn ich eine Zeit lang weniger spiele, bin ich ein bisschen verschlossener. Wenn ich dann wieder mehr auftrete, werde ich aber wieder offener. Zwischen diesen beiden Polen geht es hin und her. Liszt war übrigens nicht nur der Rockstar, als der er oft bezeichnet wird. In seinen späten Werken gibt es auch introvertierte, lyrische, ja fast einsame Seiten.

Elbphilharmonie Session: Alexandre Kantorow spielt Liszt im Flügellager der Elbphilharmonie

In Hamburg spielen Sie im Kleinen Saal der Laeiszhalle und im Großen Saal der Elbphilharmonie. Welchen Einfluss haben unterschiedliche Säle auf Ihr Klavierspiel?

Der Einfluss ist enorm. Jedes Mal, wenn ich in einem neuen Saal spiele, realisiere ich, dass ich Dinge anders machen muss. Mit der Zeit bekommt man aber eine ganz gute in­stinktive Vorstellung davon, wie man am besten reagiert. Wenn es zu viel Nachhall gibt, muss man sich zum Beispiel mehr Zeit lassen, damit auch alle Harmonien gehört werden. Wenn die Akustik zu trocken ist, braucht man vielleicht etwas mehr Pedal. Manchmal gibt es Dinge, die sich zu Hause auf dem Klavier total natürlich anfühlen, die in einem anderen Raum auf einem anderen Klavier so aber nicht funktionieren. Da hilft nur, offen für Veränderungen zu bleiben. Wenn man sich der Akustik eines Saals anpasst, kann das aber auch sehr inspirierend sein. Manchmal entdeckt man dann Möglichkeiten, an die man vorher gar nicht gedacht hat.
 

Für Pianisten ist es nicht nur jedes Mal ein anderer Saal, sondern auch ein anderes Instrument – es sei denn, man bringt wie Krystian Zimerman immer seinen eigenen Flügel mit …

Wenn ich auf einem neuen Instrument meine Klangvor­stellung nicht umsetzen kann, muss ich nach Lösungen suchen und neu über die Musik nachdenken. Auch wenn das nicht immer einfach ist. Ich kann also durchaus ver­stehen, dass einige meiner Kollegen zu Konzerten ihr eigenes Instrument und ihren eigenen Klavierstimmer mitbringen, denn auch der hat einen großen Einfluss auf den Klang. Gibt es die perfekte Kombination aus Raum und Instrument, sind das beglückende Momente, in denen ich mich als Interpret völlig frei fühle.
 

In den letzten Jahren ist Ihre Karriere richtig durch die Decke gegangen. Wie gehen Sie damit um?

Ich nehme das selbst gar nicht so wahr, weil ich mich in einem musikalischen Umfeld kontinuierlich entwickeln konnte. Mein Vater ist selbst Musiker, und ich hatte das Glück, dass ich zur richtigen Zeit die richtigen Ratschläge bekommen habe. Erst nach dem Tschaikowsky-Wett­bewerb 2019 stand ich auf einmal im Scheinwerferlicht. Danach kam dann aber Covid und hat alles wieder entschleunigt. Diese Zeit habe ich genutzt, um an meinem Repertoire zu arbeiten. Das war wichtig, weil ich zwar für den Wettbewerb vorbereitet war, aber nicht auf das, was danach kam.

 

Dieses Interview erschien im Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 1/25)

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