Wie klingt die Orchestermusik des 21. Jahrhunderts? Dieser Frage geht das Festival »Elbphilharmonie Visions« 2025 in sieben Konzerten nach. In Kooperation mit dem NDR präsentiert die Elbphilharmonie ein Kadeiloskop der Gegenwartsmusik im Großen Saal. Die Bandbreite reicht dabei von verschwenderischem Wohlklang bis zur Grenze des Geräuschhaften, von raffinierter Konzeptkunst bis zu hemmungsloser Instinkt-Musik, von der feinen Miniatur bis zum Cinemascope. Mit dabei sind wieder einige Top-Rundfunkorchester aus Deutschland und Österreich. Die kompakten Konzerte finden überwiegend ohne Pause statt, dafür mit spannenden Künstler:innen-Gesprächen auf der Bühne.
Worauf darf man sich freuen? Warum braucht es ein solches Festival? Und wieso muss man sich nicht auskennen, um Neue-Musik-Fan zu sein? Ein Interview mit Christoph Lieben-Seutter (Generalintendant Elbphilharmonie & Laeiszhalle) und Barbara Lebitsch (Künstlerische Betriebsdirektorin).
Elbphilharmonie Visions 2025 :Fr, 7.2.2025 – So, 16.2.2025

Interview
Helmut Schmidt hat gesagt: »Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.« Gilt dieser Satz auch für Konzerthaus-Intendanten?
CLS: Nichts gegen Helmut Schmidt, der ein großer Staatsmann war und ein Hamburger Idol. Aber ich würde eher sagen, wer in der Kunst keine Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.
Was also ist die Vision von »Elbphilharmonie Visions«?
CLS: Die Stadt Hamburg hat für viel Geld ein atemberaubendes Konzerthaus an den Hafen gestellt, dessen spektakuläre Architektur eine Art Versprechen ausstrahlt: Hier geschehen unerhörte Dinge auf höchstem Niveau. Die sogenannte klassische Musik steht zwar im Mittelpunkt des Programms, wird aber in alle Richtungen und weit über stilistische Grenzen hinaus ausgelotet. Hier kommt das Festival »Elbphilharmonie Visions« ins Spiel, bei dem es eben ausschließlich um aktuell komponierte, oft experimentelle Orchestermusik geht.
BL: … und dafür ist die Elbphilharmonie ein besonders guter Ort. Nicht nur weil die Architektur inspirierend ist und zum Charakter der Musik passt, sondern auch weil die Akustik des Großen Saals besonders klar und räumlich ist. Du bist wirklich mittendrin und hörst quasi in 3D – jedes kleine Klang-Element, das der Geiger am dritten Pult beisteuert, jeden Effekt, den sich der Komponist ausgedacht hat, der aber in einem historischen Saal in einer Klangwolke untergeht. Erst recht gilt das in der zeitgenössischen Musik, wo es Klangflächen und leiseste Töne gibt, die man hier im Saal besonders gut verfolgen kann.
Für viele Zuhörer:innen ist diese Musik aber eine besondere Herausforderung.
CLS: Wenn man davon ausgeht, dass Musik immer eine Melodie, eine Harmonie und einen Takt hat, dann kann es schwierig werden. Aber wenn man sich auf ein Hör-Abenteuer einlässt, wird es superspannend. Und das Publikum in der Elbphilharmonie geht ja oft auf diese Reise mit und hat eine serh offene Erwartungshaltung. Im regulären Konzertprogramm gibt es ja auch schon vergleichsweise viel Neue Musik, meistens in gemischten Programmen. Dabei beobachten wir häufig, dass das moderne Stück mindestens ebenso laut bejubelt wird wie die Werke der Klassik oder Romantik.
BL: Bei der Uraufführung von Beethovens Neunter Sinfonie vor knapp 200 Jahren hat ja auch keiner gewusst, wie sich das anhören würde. Natürlich war damals die Klangsprache vorhersehbarer, die Hörgewohnheiten klarer. Das ist heute sicher anders. Die Leute werden konfrontiert mit Hörerlebnissen, die sie so nicht kennen. Aber das heißt ja nicht, dass sie sie von vornherein ablehnen müssen. Und ob einzelne Werke dann als spannend und bereichernd oder eher als anstrengend empfunden werden, bleibt ohnehin subjektiv. Um sich auf die neuen Klänge besser einlassen zu können, helfen vielleicht auch die kurzen Gespräche im Konzert mit den Komponistinnen und Komponisten, die überwiegend vor Ort sind. Dadurch wird die Musik noch greifbarer, noch persönlicher. Bei Brahms & Co geht das ja leider nicht mehr.
CLS: Auf keinen Fall aber wollen wir jemanden belehren. Um Bach zu genießen, muss man nicht wissen, was eine Fuge ist. Ebenso wenig braucht man Vorwissen für die zeitgenössische Musik. Wobei: Je mehr Kenntnis und Erfahrung man mit der Materie hat, desto mehr hat man davon – wie in jedem Lebensbereich, egal ob Malerei, Wein, Kochen oder Fußball. Deshalb ist die Fokussierung auf aktuelle Musik im Rahmen eines ganzen Festivals auch so gewinnbringend.

»Auf keinen Fall wollen wir jemanden belehren. Um Bach zu genießen, muss man ja auch nicht wissen, was eine Fuge ist.«
Es geht also darum, offen zu sein und Vorurteile außen vor zu lassen.
BL: Genau. Wir richten uns jedenfalls dezidiert an das allgemeine Publikum, nicht nur an Neue-Musik-Aficionados. Übrigens sind ja auch viele der Festivalgäste wie Arabella Steinbacher, Lawrence Power, Ryan Bancroft und natürlich auch Alan Gilbert keineswegs nur auf Neue Musik abonniert. Das unterstreicht, dass sie nichts Besonderes sein sollte, sondern normaler Bestandteil des Repertoires.
CLS: Gute Kunst verändert was im Rezipienten. Ich möchte von einem Konzert bewegt, inspiriert, beeindruckt und natürlich auch unterhalten werden. Deshalb ist Neugier wichtig, die man als Mensch ja sowieso haben sollte. In den Konzerten meines Lebens, an die ich mich noch nach Jahrzehnten gut erinnern kann, ist oft musikalisch etwas Überraschendes und zumindest für mich gänzlich Neues passiert. So eröffnen sich manchmal neue Welten. Das kann bei einem Festival für Neue Musik natürlich leichter passieren als bei der x-ten Aufführung der 5. Tschaikowsky.
Welche Trends gibt es in der aktuellen Musik?
BL: Es gibt nicht mehr diese strengen Dogmen wie noch in den 1950er-Jahren, als man nur aufgeführt wurde, wenn man einer bestimmten Schule, einer Strömung angehörte. Heute ist das Spektrum viel größer. Der eine schreibt Geräusch-Musik, die andere serielle atonale Musik, der dritte traditionelle Dreiklänge, die vierte nutzt Live-Elektronik. Diese Freiheit bedeutet aber keineswegs Beliebigkeit, sondern Vielfalt – und diese Vielfalt versucht das Festivalprogramm abzubilden.
Da gibt es »My Melodies« des 89-jährigen Altmeisters Helmut Lachenmann mit viel Geräusch und extremer Dichte, aber ohne Melodien im herkömmlichen Sinn. Oder Mark Andre, einer seiner Schüler, der uns dem zartesten Verklingen einzelner Motive im Raum nachlauschen lässt. Clara Ianottas »Moult«, das man sehend hören muss, um zu begreifen, dass diese faszinierenden Sounds nicht elektronisch erzeugt werden, sondern aus dem Orchester kommen. Noch mehr als in der klassischen Musik entfaltet sich die volle Wirkung eines zeitgenössischen Musikstücks im Liveerlebnis, im Konzertsaal und mit allen Sinnen. Das gilt auch für die beiden Schlagzeugkonzerte von Francesca Verunelli und Johannes Maria Staud, in denen neben konventionellen Instrumenten auch ungewöhnlichere Objekte zum Einsatz kommen – und sehr wahrscheinlich für das neue Stück von Alex Paxton, das neben Bernd Richard Deutschs großem chorsinfonischen Werk eine der beiden Uraufführungen im Eröffnungskonzert ist.
»Neu Gehört«
Kurz-Interviews mit einigen Komponist:innen des Festivals »Elbphilharmonie Visions«.
Apropos Uraufführungen – warum gibt es bei »Elbphilharmonie Visions« nicht mehr davon?
CLS: Weil Uraufführungen ein zweischneidiges Schwert sind. Natürlich ist es sehr wichtig, verdienstvoll und immer auch ein bisschen glamourös, neue Werke zu beauftragen und aus der Taufe zu heben. Machen wir ja auch im Eröffnungskonzert. Aber viele Premieren finden nicht im optimalen Setting statt. Weil die Partitur zu spät fertig war und es nicht genügend Vorbereitungszeit für den Dirigenten gab. Oder das Orchester nicht genug Probenzeit für das neue Werk hatte. Viele Klassiker der Musikgeschichte sind bei der Uraufführung gnadenlos durchgefallen. Umgekehrt werden immer wieder Werke bei der ersten Aufführung bejubelt und verschwinden trotzdem danach in der Versenkung. Hier setzen wir an und versuchen so eine Art Best-of der letzten 25 Jahre zu präsentieren.
Wer entscheidet denn konkret, welche Stücke beim Festival gespielt werden?
BL: Das Programm entsteht in Zusammenarbeit von Elbphilharmonie, dem NDR mit Alan Gilbert als Spiritus rector und dem Musikkurator Hervé Boutry, der lange Jahre Manager des Ensemble intercontemporain war und immer noch sehr dicht dran ist an neuen und neuesten Stücken. Wir sammeln Ideen und spielen sie uns gegenseitig zu: eine Mischung aus persönlichen Vorlieben, eigenen Erfahrungen und Tipps von anderen. Dann gehen wir natürlich in den Austausch mit den Künstler:innen und den Verantwortlichen der Gastorchester, die die Programme ja auch bei sich zu Hause aufführen sollen. Nicht alles, was wir uns anfangs wünschen, ist auch realisierbar, dafür kommen aber andere, interessante Vorschläge und man findet Synergien. Wichtig ist, dass am Ende alle Beteiligten aus Überzeugung zu dem Programm stehen.
Wie kam das Festival überhaupt zustande?
BL: Wir haben nach einem Nachfolger für »Greatest Hits« gesucht, unserem Festival für zeitgenössische Musik, das bis zur Eröffnung der Elbphilharmonie vier Mal auf Kampnagel stattgefunden hat. Dann kam 2019 Alan Gilbert als neuer Chefdirigent vom New York Philharmonic zum NDR Elbphilharmonie Orchester und brachte das Konzept einer Biennale mit, die er in New York gegründet hatte. Wir haben uns zusammengesetzt und herausgekommen ist »Elbphilharmonie Visions« als gemeinsames Projekt von NDR und Elbphilharmonie.
Warum treten neben dem NDR Elbphilharmonie Orchester unter Alan Gilbert ausschließlich Rundfunkorchester auf? Weil die qua Programmauftrag ohnehin relativ viel Neue Musik spielen?
CLS: Auch, ja. »Elbphilharmonie Visions« versteht sich als Plädoyer für die Rundfunkorchester, die ja von manchen für eine bedrohte Spezies gehalten werden. Neben ihrem ursprünglichen Zweck, klassische Musik medial verfügbar zu machen, sind sie eine tragende Säule unseres Musiklebens und gerade für die Aufführung neuer Werke unerlässlich. Ein Großteil der nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Taufe gehobenen Orchesterwerke wurde von Rundfunkorchestern uraufgeführt. Dass Deutschland auf Grund seiner föderalen Struktur ein Dutzend Rundfunkorchester hat, ist geradezu Weltkulturerbe-würdig.
Wieder wird im Rahmen des Festivals der Claussen-Simon-Kompositionspreis vergeben, in Form eines Auftragswerks, das im Eröffnungskonzert vorgestellt wird. Diesjähriger Preisträger ist Alex Paxton. Wie läuft der Auswahlprozess ab?
BL: Wie schon 2023 gab es eine offene Ausschreibung, auf die sich fast 200 Komponist:innen aus aller Welt beworben haben, mit einer Partiturskizze und einer kurzen Beschreibung. Komplett anonymisiert, um Chancengleichheit zu garantieren. Dann hat eine Jury bestehend aus Alan Gilbert, dem Komponisten Matthias Pintscher, der vergangenen Preisträgerin Lisa Streich sowie den Kompositionsprofessoren Reinhard Flender und Fredrik Schwenk von der hiesigen Musikhochschule die Einsendungen im Vier-Augen-Prinzip gesichtet und auf 25 Stücke eingedampft. Daraus hat die Jury vier Finalist:innen auserkoren, die zu einer Leseprobe mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester unter Alan Gilbert eingeladen wurden, bei der dann schon die weiter ausgearbeiteten Skizzen durchgespielt und besprochen wurden.
Am Ende hat die Jury den Preisträger gekürt, der den Auftrag bekam, sein Stück für die Uraufführung im Rahmen des Festivals fertigzustellen. Mit Alex Paxton haben wir jetzt jemanden, der tatsächlich gerade überall reüssiert. Das war schon erstaunlich, weil ja bis zu dem Moment, als das Geheimnis gelüftet wurde, niemand wusste, von wem die vier Stücke waren, die in die Endauswahl kamen.
Erstmals gibt’s ein allabendliches Nachglühen in den Räumen des ehemaligen Störtebeker-Restaurants am Panorama-Fenster an der »Kehre« der Tube-Rolltreppe. Was erwartet uns dort?
CLS: In Kooperation mit der RIAA-Bar, die bis vor kurzem in Altona ansässig war, haben wir dort eine Pop-Up-Bar eingerichtet. Da gibt es Drinks und kuratierte DJ-Sets mit Acts aus London, Brüssel und Hamburg. Das Konzept folgt dem weltweiten Trend von »Listening Bars«. Für uns eine schöne Gelegenheit, Ideen zu erproben, die wir zurzeit für die zukünftige Nutzung der ehemaligen Gastronomieflächen entwickeln, und dabei eine Brücke zur Hamburger Clubkultur zu schlagen. Ist ja auch aktuelle Musik.
Interview: Clemens Matuschek, Januar 2025