Text: Julika von Werder, 30.9.2024
Das Bild wackelt, wenn er das Handy während unseres Zoom-Calls durch seine Wohnung trägt. Er habe eine dieser typischen Messie-Künstler-Wohnungen, lacht Alex Paxton. Man könnte auch sagen, die Wohnung des englischen Komponisten und Jazz-Posaunisten sieht aus wie ein Wimmelbilderbuch, in das man als Kind gerne mal hineingestiegen wäre. Überall finden sich Dinge, die offenbar jederzeit für Klangexperimente herhalten müssen. Auf dem Tisch liegen knallbunte Collagen, auf denen Paxton vielerlei Kleinkram zu außergewöhnlichen visuellen Welten arrangiert. Er hält die Kamera auf einzelne der vielen Bilder an den Wänden – Quellen seiner Inspiration, Ausdruck seines künstlerischen Selbstverständnisses. Stolz zeigt er auch seine Soundbox, einen schallisolierten schwarzen Holzkasten im Raum, in dem er Musik machen kann, ohne die Nachbarn zu stören. Darin hängen bunte Papierschmetterlinge – »for feel-good«, wie er fröhlich erklärt.
Wie bei einem Messie wirkt in der kleinen Londoner Wohnung also eigentlich nichts, eher im besten Sinne kreativ-chaotisch. Und wirklich überraschen kann der Anblick dieser bunten, aus allen Nähten platzenden Räume auch nicht. Im Gegenteil: Sie passen zu dem knappen künstlerischen Manifest, das Paxton ganz nach oben auf seine Website gestellt hat: »Making magic sound stuff.« Klang-Kram will er machen, aber magischen.

Alex Paxtons magischer Klang-Kram trägt Titel wie »ilolli-pop« oder »Love Kittens« und verbindet alltägliche Klänge mit fetzigen Comic-Sounds, Volkstümliches mit Geräuschkunst, menschliche Stimmen mit virtuoser Kammermusik, Jazz-Improvisationen mit dichten Orchester-Texturen. Seine oft im Positiven überdrehte Musik ist ungeheuer mitreißend, geradezu unentrinnbar. »Worldbuilding« wolle sie sein, meint der Komponist. Neue Welten sollen entstehen – Welten aus magischem Kram. »Das ist der bestgelaunte Sound, den ich seit langem gehört habe«, schwärmt ein Kritiker der »New York Times«. »Diese Musik bringt knallbunte Freude; mit wahnsinniger Energie und unbändigem Humor, und dennoch ernst«, meint »The Guardian«.
Alex Paxton in der Elbphilharmonie
Eröffnungskonzert »Elbphilharmonie Visions«
Im Rahmen des Claussen-Simon-Kompositionspreises schreibt Alex Paxton ein neues Werk für das NDR Elbphilharmonie Orchester, das beim Eröffnungskonzert des erfolgreichen Neue-Musik-Festivals »Elbphilharmonie Visions« am 7. Februar 2025 unter der Leitung von Alan Gilbert zur Uraufführung kommt.
Noten springen aus der Partitur :Alex Paxton erobert die Konzertbühnen
1990 in Manchester geboren, studierte Alex Paxton Jazz und Komposition an der Royal Academy of Music und am Royal College of Music in London. Als Jazz-Posaunist und Improvisationskünstler ist er heute in verschiedenen Formationen unterwegs; daneben steht er in spannenden Fusion-Projekten mit Klangkörpern wie dem Ensemble Modern auf der Bühne. Auch als Komponist ist er mindestens europaweit präsent. Seine Werke wurden etwa vom London Symphony Orchestra und dem WDR Sinfonieorchester gespielt. Drei Alben mit eigener Musik hat er mittlerweile herausgebracht. Allein 2023 durfte er sich über mehrere renommierte Auszeichnungen freuen, darunter der Hindemith-Preis des Schleswig-Holstein Musik Festivals, der Förderpreis Komposition der Ernst von Siemens Musikstiftung sowie der Claussen-Simon-Preis – in dessen Rahmen Paxton nun für die zweite Ausgabe des Festivals »Elbphilharmonie Visions« ein Werk schreibt, das vom NDR Elbphilharmonie Orchester uraufgeführt wird.
Alan Gilbert, der Chefdirigent dieses Orchesters, war Teil der Jury, und er erinnert sich an die Reading Session im Herbst 2023, bei der die Werke mehrerer Kandidaten für den Claussen-Simon-Preis angespielt wurden: »Ohne Namen oder Hintergrund des Komponisten zu kennen, sprangen mir die Noten förmlich aus der Partitur entgegen. Es war klar, dass das eine einzigartige kompositorische Stimme ist.« Alex Paxton wiederum ist seit dieser Session begeistert vom Großen Saal der Elbphilharmonie: »Für mich ist ein Raum so wichtig wie ein Instrument«, meint er, »und dieses Haus ist gerade für moderne Musik perfekt, klar und warm zugleich.«
Alex paxton & London Sinfonietta: »Candyfolk Space-Drum«
Der Ernst des Spiels :Alex Paxton und die Welt der Kinder
»Die Welt der Kinder bedeutet mir viel«, erklärt Paxton, der bis vor Kurzem auch in quirligen Londoner Grundschulräumen unterwegs war. Über mehrere Jahre unterrichtete er als Musiklehrer in Klassen mit rund 30 Kindern zwischen vier und elf Jahren; inzwischen passt die regelmäßige Verpflichtung nicht mehr in seinen Alltag. Nicht erst rückblickend empfindet er diesen Job als eine wichtige Prägung: »Es war die perfekte Ergänzung zu meinem Studium, ein großes Puzzleteil meiner Kunst, das mir sonst fehlen würde.« Es spricht ein aufrichtiger Respekt aus ihm, wenn er erzählt, wie er mit den Kindern gemeinsam komponierte oder für sie eigene Werke entwickelte – auf der Suche nach einer Klangsprache, die nicht nur für ihn, sondern auch für begeisterungsfähige Erstklässler Bedeutung bekommt. »Auch ohne die ganze Lebenserfahrung verstehen sie das Wichtigste in der Musik ganz unmittelbar«, ist er überzeugt. »Musik kann und soll auch ohne Vorwissen funktionieren.«

Als Komponist und Jazzer schätzt er an der Welt der Kinder auch die Bedeutung des Spielens: »Kinder sind so gut darin, das Spielen ernst zu nehmen. Es ist ja auch das Ernsthafteste überhaupt. Für meine Kunst ist es enorm wichtig, eigentlich für die gesamte Menschheit.« Seine Musik (vielleicht Musik generell) solle eben »worldbuilding« sein – und die Fantasie, Welten zu entwerfen, ist für Paxton nie nur ein Spiel. »Desperately« ist der Ausdruck, den er hier gerne verwendet, nicht in der Bedeutung von »verzweifelt«, sondern von »dringlich«. Es geht ihm nicht um eine Spielwiese, die parallel zur echten Welt existiert und die man immer wieder verlassen kann. Vielmehr ist das Spiel für ihn die Grundlage einer lebendigen Beziehung zur Welt an sich.

»Spielen ist das Ernsthafteste überhaupt. Für meine Kunst ist es enorm wichtig, eigentlich für die gesamte Menschheit.«
Alex Paxton wollte immer schon Komponist werden, und er hat auch fast schon immer komponiert. Seine frühen Werke findet er heute zwar ein bisschen roh, aber doch näher an seinem aktuellen Selbstverständnis als die Werke, die er später während des Studiums zu Papier brachte. »Das ist das Schwierige beim Unterrichten eines Handwerks: Am Ende geht es darum, Menschen zu helfen, es wieder zu überwinden.«
Aber ohne Handwerk ginge es eben auch nicht; gerade bei der Instrumentation brauche man viel technisches Wissen, um die Musik bis in die Feinheiten durchdenken und gestalten zu können. Er vergleicht diesen Vorgang bildhaft mit dem Anblick eines schönen Waldes, dem man sich immer weiter nähern kann, bis hin zur faszinierenden Struktur einzelner Blätter – und darüber hinaus.
Das Gefühl lebendig zu sein :Alex Paxtons Musik öffnet viele Assoziationswelten
Auch Alex Paxtons Musik funktioniert auf verschiedenen Ebenen und ändert sich mit jedem Hören. Sie überwältigt ganz unmittelbar mit ihrer mitreißenden Energie, und doch lassen sich in der tosenden Flut unzählige Detailklänge entdecken, die wiederum ganz neue Assoziationswelten erschließen. »Ich versuche, Musik zu machen, die so gut wie möglich meinem Gefühl davon entspricht, lebendig zu sein«, fasst er zusammen. Und dazu gehöre eben vieles: Begegnungen mit der Natur, der Trubel der Londoner Innenstadt, Filme, Ausstellungen, Gespräche, »aber auch unsere Konsumwut und die Müllberge«. All das saugt der Komponist mit den immer bunten T-Shirts wie ein Schwamm auf, gleichsam als Material für seine Kreativitätsmaschine. Nicht ohne Grund findet sich an seinen Wänden ein Bild von Hieronymus Bosch, dem er auch sein erstes Album, »Music for Bosch People«, widmete. Ähnlich den fantastisch-grotesken Bildwelten des niederländischen Renaissance-Malers, setzt sich Paxtons Musik aus scharfen Details zusammen, die gemeinsam ein surreales Ganzes schaffen. »So führt er das stilistische Schubladendenken virtuos und unterhaltsam ad absurdum«, meinte die Neue Zeitschrift für Musik.
Welche Verbindung seine eigenen Bilder zu seinen Kompositionen haben? Keine besonders enge, meint Paxton: »Sie sind vielleicht spirituell verwandt, aber nicht konkret auf die Musik bezogen oder umgekehrt.« Es sind überwiegend Collagen, die etwa Süßigkeiten, große Farbkleckse und kleine Figuren zu einer flirrenden Welt zusammenzwingen. »Magical Visual Stuff« könnte man das nennen.

Ein Festival-Visual für »Elbphilharmonie Visions«
Auch das visuelle Hauptmotiv des Festivals »Elbphilharmonie Visions« ist eine Collage von Alex Paxton. Sein farbenfrohes Bild »Safteypants Full Silver Foil« wurde dafür in seiner Londoner Wohnung fotografiert.
Künstlerische Koexistenz :Alex Paxtons freut sich auf die Musik der Zukunft
Eine Frage aus unserem Gespräch hat ihn so beschäftigt, dass er mir kurz nach dem Termin noch eine ergänzende Mail hinterherschickt: Was glaubt er, wie Musik in 20-30 Jahren klingen wird? Das kann und will er gar nicht beantworten. Aber er kann nicht oft genug betonen, dass er wahnsinnig gespannt darauf ist. Und wahnsinnig zuversichtlich. »Es passiert so viel Faszinierendes gleichzeitig: Ich interessiere mich für die neuen Sounds aus dem Trash-TV genauso wie für Teenage-Culture und Popmusik, für die Veröffentlichungen des brillanten Labels Nyege Nyege Tapes in Uganda, oder was ein einsamer Teenager an Spotify-Tracks in seinem Zimmer zusammenbastelt.« Kanonpflege – nein, danke. Streaming-Dienste – »World changing«. Musikgeschichte sollte seiner Meinung nach nie in linearen Strängen geschrieben werden, Alex Paxton ist ein großer Verfechter unbedingter künstlerischer Co-Existenz. Qualitätsprüfung braucht es natürlich trotzdem: »Ich vergleiche Musik oft mit einem Gericht: Wie würde diese Musik als Essen schmecken, und macht das irgendwie Sinn?« Er selbst kocht auch gerne, meint aber, er könne es nicht.
Wie Alex Paxtons Musik schmeckt, kann ich nicht hinreichend beschreiben. Aber Probieren lohnt sich. Und man sollte Hunger mitbringen.
Dieser Artikel erschien im Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 1/25).
- Elbphilharmonie Kaistudio 1
Alex Paxton / Music for Bosch People
After-Work-Konzert – Elbphilharmonie PLUS / Elbphilharmonie Visions
Vergangenes Konzert - Elbphilharmonie Großer Saal
NDR Elbphilharmonie Orchester / MDR-Rundfunkchor / NDR Vokalensemble / Alan Gilbert
Visions 1: Alex Paxton / Bernd Richard Deutsch
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