Mitreißende Singer-Songwriter:innen aus Benin und drehende Derwische aus dem Nahen Osten, swingende Brassbands aus New Orleans und eindrückliche Rezitationen einer buddhistischen Nonne aus Japan – in der Elbphilharmonie gibt es weit mehr zu hören als nur »klassische« Musik. Denn schließlich haben auch andere Erdteile faszinierende Musikstile hervorgebracht, deren Traditionen teilweise sogar erheblich länger zurückreichen als Mozart & Co. Und wo sonst sollten sie alle zusammenkommen als in Hamburg, dem Tor zur Welt?
Jenseits vom Erwartbaren
Oft sind diese Konzerte ein besonderes Erlebnis – schon der Dresscode auf der Bühne kann überraschen. Zudem fordern ungewohnte Gesangstechniken, fremdartige Instrumente und Tonsysteme anderer Musikstile die eigenen Hörgewohnheiten heraus. Die arabische oder indische Musik etwa kennt keine Akkorde wie die europäische, unterteilt ihre hochkomplexen Skalen aber in gut doppelt so viele Tonstufen. Auch klangliche Schönheitsideale unterscheiden sich von Kultur zu Kultur.
Dafür taucht das Publikum ein in eine Klangwelt, die sich sonst nur in abgelegenen Kaukasus-Tälern oder auf indonesischen Inseln finden ließe – die selbst dort aber womöglich schwer zugänglich wäre. Denn in vielen Regionen der Erde ist Musik gar nicht dazu da, im Konzert vorgeführt zu werden, sondern inhärenter Teil religiöser Rituale. Hier zu vermitteln (und die entsprechenden Künstler:innen überhaupt zu finden und zu kontaktieren) ist manchmal gar nicht so einfach für die Elbphilharmonie-Kolleg:innen, die solche Auftritte organisieren.
Weltmusik: eine frühe Idee
Letztlich bedeutet »Weltmusik« (so der behelfsmäßige Begriff) also einen kulturellen Austausch. Schon immer war die florierende Globalisierung in der Musikwelt von gegenseitigem Interesse und grenzenloser Kreativität geprägt. Mozart griff mit seinem bekannten »Rondo alla Turca« türkische Janitscharenmusik auf und Puccini probierte sich in seiner Oper »Madame Butterfly« an japanischem Lokalkolorit.
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Der Begriff »Weltmusik«
Der Begriff »Weltmusik« stammt aus den 80er Jahren, als Plattenlabels nach einer geeigneten Genrebezeichnung für den neu aufkommenden Trend suchten. Aufgrund seiner häufig als eurozentrisch wahrgenommenen Perspektive ist der Begriff heutzutage nicht unumstritten.

»Ich singe nicht über Politik, ich singe über die Wahrheit.«
Maria Makeba
Die Welt öffnet sich :Die 1960er Jahre
Das, was man heute unter »Weltmusik« versteht, hat seinen Ursprung allerdings in den 1960er Jahren, als die Bürgerrechtsbewegung in den USA und die weltoffene Hippie-Generation den kulturellen Austausch forcierten. Durch ein immer größer werdendes Interesse an der afrikanischen Kultur avancierte etwa die südafrikanische Sängerin Miriam Makeba zum Popstar.
Tony Scott zwischen Amerika und Fernost
Einer der Wegbereiter der Weltmusik war der berühmte amerikanische Jazz-Klarinettist Tony Scott. 1959 kehrte er der New Yorker Szene den Rücken, um für sechs Jahre in Fernost zu leben. Dort wurde er zum Geburtshelfer des Jazz in Asien, spielte auf den ersten Jazz-Festivals in Hongkong und Japan und unterrichtete.
»Ich suchte etwas Neues, emotional und spirituell. Die Jazzwelt hier war kalt für mich geworden. Es war ohne Leidenschaft. Ich fand die gesuchte Wärme in Japan.«
Tony Scott (1966)

Umgekehrt saugte der neugierige Scott alles an asiatischer Musiktradition auf, was ihm begegnete. Wo er hinkam, suchte er sich Menschen, mit denen er gemeinsam musizieren konnte – und sei es ein ganzes Gamelan-Ensemble auf Bali. In Japan fand er sich mit Hozan Yamamato an der Shakuhachi (Bambusflöte) und Shinichi Yuize an der Koto (Zither) zusammen. Zu dritt nahmen sie das Album »Music for Zen Meditation« auf, eine der ersten Ethnojazz-Produktionen überhaupt.
Ravi Shankar: Kulturbotschafter aus Indien
Ein weiterer bekannter Weltmusiker der ersten Stunde war Ravi Shankar. Der legendäre Sitar-Spieler sorgte wie kein anderer dafür, dass die klassische indische Musik die Konzerthäuser und Festivals aller Welt eroberte. Jahrzehntelang tourte er durch Europa und die USA, unterrichtete unter anderem den Beatle George Harrison und inspirierte zahlreiche Rockbands, mit indischen Klängen zu experimentieren.
»In Indien dachten einige wohl, ich würde mich selbst verraten, wenn ich mit George arbeite. Ich wurde sogar der 5. Beatle genannt.«
Ravi Shankar
Eine enge Partnerschaft verband Ravi Shankar mit dem berühmten Geiger Yehudi Menuhin. Gemeinsam nahmen sie mehrere Platten auf und spielten 1967 bei der UN-Vollversammlung. Ravi Shankar, der 2020 seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, komponierte zudem Werke für Sitar und Orchester und begründete damit eine neue kulturübergreifende Musiktradition.

»Giving the world back to the world«
Peter Gabriel gründet das WOMAD-Festival :Die 1980er Jahre
»Es gibt ja eine Slow-Food-Bewegung. Ich glaube, ich bin Teil der Slow-Music-Bewegung.«
Peter Gabriel
Den nächsten Schwung erhielt die Weltmusik-Szene in den 1980er Jahren durch Peter Gabriel. Der ehemalige Frontmann der Band Genesis rief 1982 das WOMAD-Festival (World of Music, Arts and Dance) ins Leben, das heute mit rund 150 Veranstaltungen in über 20 Ländern zu den größten Weltmusik-Festivals gehört.
Peter gabriel beim ersten WOMAD-Festival 1982
Zudem gründete Gabriel sein eigenes Label »Real World Records« und richtete dafür gleich die passenden Studios in einer alten Mühle im Südwesten Englands ein. Sie erwiesen sich als Sprungbrett für Musiker:innen aus verschiedensten Regionen der Welt wie etwa Youssou N’Dour oder Papa Wemba.
»Die ganze Zeit über stehlen Künstler irgendwo und ich glaube, das ist gesund. Es geht alles um Verbindungen. Letztlich sind wir alle miteinander verbunden.«
Peter Gabriel
Zusammen klingen: Weltmusik heute
Heute sind Jazz, Pop und westeuropäische Klassik ohne Einflüsse von Musik aus aller Welt nicht mehr denkbar. Dazu gehören Pop-Hits von Shakira, DJ Snake oder Lil Dicky, multikulturelle Rap-Samples und Latin Jazz genauso wie Werke des erfolgreichen japanischen Komponisten Toshio Hosokawa, der eine Symbiose aus europäischer Avantgarde und traditioneller japanischer Musik anstrebt. Kompositionswettbewerbe wie der »Creole Global Music Contest« rufen zu neuen global-musikalischen Kreationen auf. Die Musik der Welt findet also nicht nur auf die Bühnen, sondern auch zueinander.
Text: Julika von Werder, Stand: 17.11.2020