Text: Stefan Franzen, 1. August 2024
Als ein Spiegel der Vielfalt, so zeigt sich das Musikleben Brasiliens seit mindestens 150 Jahren. Der riesige Staat in Südamerika ist ein ethnisches und topografisches Patchwork mit einer Geschichte, an der eine Menge Völker und Kulturen mitgewirkt haben. Die Musik war und ist dabei eine integrative, solidarisierende Kraft, ein klingender Kitt, der große Teile der Gesellschaft zusammenhält. Sie hat Diktaturen und Militärregimes überstanden, ist gegen Politik aufgetreten, hat sie aber auch selbst mitgestaltet.
Anlässlich des Brasilien-Festivals in der Elbphilharmonie 2024: zehn markante Ereignisse aus der Musikhistorie des Landes, die weit über den jeweiligen Tag wirkten und wirken.
»Über brasilianische Musik zu sprechen, heißt über Diversität zu sprechen, über Mischungen. Diese Vielfalt kann man in der Küche, in der Religion, in den Menschen und der Sprache sehen – und eben auch in der Musik. Dazu kommt: Brasilien ist ein junges Land, das immer noch originale Stile hervorbringt.«
Marisa Monte (Sängerin)
Festival »Brazilian Legends« :22.–27. Oktober 2024
Fast eine Woche lang feiert die Elbphilharmonie die brasilianische Musikkultur und präsentiert einige musikalische Legenden dieses vielfältigen Landes.
1877: RIOS ERSTE SELF-MADE-FRAU :Der »Choro« von Chiquinha Gonzaga
Mitte des 19. Jahrhunderts bekommen in Rio de Janeiro die Salontänze, die die Kolonialherren mitgebracht haben, einen swingenden Touch. Die mit Flöte und Gitarre gespielten Polkas, Walzer und Mazurken färben sich mit den Rhythmen der verschleppten Afrikaner:innen. Auch Blechbläser und Klarinetten aus den Fabrik- und Feuerwehrkapellen finden Eingang in diese Instrumentalmusik, die man bald Choro nennt, ihres oft melancholischen Charakters wegen wohl vom Verb chorar, weinen. Es ist die erste genuin brasilianische Musik. In der neu entstehenden Mittelschicht kommt das Klavierspiel immer mehr in Mode und bereichert diese junge Musik ebenfalls.
Eine solche Pianistin aus gutem Hause ist Chiquinha Gonzaga (1847–1935). Sie wird zur ersten Self-made-Frau Rios: Zunächst Mitglied im Ensemble des Choro-Pioniers Joaquim Callado, greift sie 1877 selbst zur Feder und schreibt die Komposition »Atraente«. Dann folgt Hit auf Hit, etwa »Corta Jaca«, entworfen für eine burleske Operette.

Mit ihrem eigenen Orchester und Revuetheater geht Gonzaga in Brasiliens Geschichte ein und wird von vielen bis heute als Leitbild verehrt – nicht nur als Musikerin, sondern auch als Vorkämpferin für Frauenrechte und die Abschaffung der Sklaverei. Ihre Musik, der Choro, ist bis heute im ganzen Land beliebt, auch bei den Jungen, als spontane Straßenmusik ebenso wie in jazzigen Studioproduktionen.
1939: EINE HYMNE AUF BRASILIEN :»Aquarela do Brasil« von Ary Barroso
Mit den Zuwanderer:innen aus der Region Bahia, die Ende des 19. Jahrhunderts im Hafen und in den Straßen von Rio Arbeit suchen, gelangt eine frühe Form des Samba in die damalige Hauptstadt, der Samba de Roda, noch mit Zügen eines afrikanisch geprägten Kreistanzes. In den Tanzhäusern trifft er – wie der Choro – auf europäische Melodien und Harmonien. In frechen und saftigen Texten erzählt er von Saufgelagen, von Herzschmerz, auch vom Katz- und Mausspiel mit der Polizei. Ab den 1930ern wird er bei den Paraden des Karnevals mit aufwendigen Choreografien gekoppelt, Sambaschulen sprießen überall aus dem Boden. Auf den Hügeln bleibt er als Samba de Morro eine Musik der Armen; unten in der Stadt hält er Einzug in die Bourgeoisie und ins Radio, wird ein richtiger Wirtschaftszweig. Oft nimmt dieser Mittelschicht-Samba pathetische Gestalt an, orchestral gewandet und mit schmelzendem Gesang.

Diesen massentauglichen Samba Exaltação weiß auch der Diktator Gétulio Vargas für seine Zwecke zu nutzen. Zum größten Hit des Genres wird »Aquarela do Brasil« aus der Feder von Ary Barroso (1903–1964), veröffentlicht am 18. August 1939. Diese Hymne verherrlicht brasilianische Landschaft, Kultur und Leute in überschwänglichen Versen zu einer nachgerade operntauglichen Melodie. 1942 entdeckt Walt Disney sie für seinen Zeichentrickfilm »Saludos Amigos« und macht das Stück damit zum ersten brasilianischen Hit in den USA. Unter dem neuen Namen »Brazil« ist sein Siegeszug um die ganze Welt dann Legende, mit Versionen etwa von Django Reinhardt, Frank Sinatra, Santana, Harry Belafonte und Dionne Warwick.
Ary Barroso: »Aquarela do Brasil«
1958: SANFTE REVOLUTION MIT KÜSSCHEN UND FISCHLEIN :»Chega de Saudade« von João Gilberto
Können zwei Minuten Musik (präzise: eine Minute und 58 Sekunden) die Welt verändern? Am 10. Juli 1958 betritt ein Mann mit seiner Gitarre die Odeon-Studios in Rio de Janeiro. Seine Stimme ist eine Mischung aus näselndem Fagott und flüsterndem Flügelhorn, sein Zupfen ökonomische Eleganz. Brasilien hat lange Jahre der Schwülstigkeit erlebt, der pathetische Samba Exaltação beherrschte die Radios. Doch die Jugend sucht jetzt nach leichtfüßigeren, spielerischeren Klängen, und ein junger Bohemien aus Bahia namens João Gilberto (1931–2019) hat das Rezept. Er überträgt die vielen Perkussionsmuster des Samba in raffinierter, sanfter Rhythmik auf seine sechs Saiten. Präzisiert hat er diesen Sound in monatelanger Kleinarbeit auf der Toilette – wegen der schönen Hall-Akustik dort. Die Texte für seine Miniaturen liefert ihm der Poet Vinicius de Moraes (1913–1980), die Arrangements der Pianist und Komponist Antônio Carlos »Tom« Jobim (1927–1994). Alle drei zusammen entwickeln das, was sich allmählich unter dem Namen Bossa Nova (»neue Flause«) herauskristallisiert.
»João Gilberto an der Gitarre könnte auch einfach die Zeitung lesen und würde dabei unfassbar gut klingen.«
Miles Davis
Das kurze, knackige »Chega de Saudade« (»Schluss mit der Traurigkeit«) ist die Blaupause dafür. Einzigartig sind die Wortspielchen im Text: Da reimen sich »peixinhos« auf »beijinhos«, denn sie soll so viele »Küsschen« bekommen, wie »Fischlein« im Meer schwimmen. Als das Lied im Dezember 1958 erscheint, will plötzlich jeder so Gitarre spielen wie João Gilberto. Für sechs intensive Jahre blüht die Bossa Nova in Brasilien – bis die Militärdiktatur dem unbekümmerten Lebensgefühl 1964 ein Ende setzt. Doch da ist sie längst schon Weltsprache geworden.
João Gilberto: »Chega de Saudade«
1964: Panzer statt Gitarren :»Inútil Paisagem« von Tom Jobim
Als am Morgen des 1. April 1964 der Gitarrist Roberto Menescal mit einer jungen Sängerin in Rio de Janeiro zum Aufnahmestudio fährt, ist das Gebäude leer. Langsam sickert zu den beiden durch, was am Vorabend passiert ist: Rio durch einen Putsch der Generäle lahmgelegt, Panzer auf den Straßen – der Auftakt zu einer 21-jährigen finsteren Militärdiktatur. Der 31. März markiert somit auch das Ende der unbeschwerten Bossa-Nova-Ära.
Schlechtes Timing für die 19-jährige Wanda Sá, die gerade am Beginn ihrer Karriere steht und mit ihrem Debütalbum »Vagamente« nun unfreiwillig einen letzten Abschiedsgruß an die Bossa-Ära sendet. Menescal und Sá machen aus der Not eine Tugend: Sie nehmen das vorgesehene Stück einfach mit den wenigen Musiker:innen auf, die zum Studio durchgekommen sind, ohne großes Streichorchester, in denkbar intimer Atmosphäre. Und so entsteht eines der schönsten Stücke der späten Bossa, eine grandiose, intensive Zwiesprache zwischen der versonnenen E-Gitarre und dieser schmachtenden Stimme: »Inútil Paisagem«. Die Melodie ist schmerzlich-chromatisch, macht viele unerwartete Wendungen. Tom Jobim greift hier bewundernd auf Impressionisten wie Debussy zurück. Und der Text von Aloysio de Oliveira ist eine Sternstunde der tropischen Romantik.
Tom Jobim: »Inútil Paisagem«
1968: Prominenz hinter Gittern :Caetano Velosos »Tropicalismo«
Im Oktober 2023 stand er wieder einmal auf der Bühne der Elbphilharmonie, und mit seinen 81 Jahren zeigte Caetano Veloso noch die Spannkraft und den Charme eines 60-Jährigen, wurde frenetisch gefeiert für seine immer noch geschmeidige, androgyne Stimme. 55 Jahre zuvor: der Beginn seiner Karriere in einer explosiven Zeit. Auf die Militärdiktatur reagieren er und seine Mitstreiter:innen, allen voran Gilberto Gil, mit dem Tropicalismo. Das ist ein Amalgam aus Urwald und Karnevalsklängen, Anleihen bei den Beatles und der Bossa Nova, lautmalerischer und bilderreicher, kritischer Poesie.
Das Regime wittert zu viel Zündstoff in diesen seltsamen Soundcollagen, die auf den ersten Alben der beiden jungen Wilden zu finden sind, und in ihrem Hippie-Look ohnehin. In der Morgendämmerung des 27. Dezember 1968 werden Veloso und Gil zu Hause verhaftet. Es folgen Monate grausamer Einzelhaft, schließlich schiebt man sie für drei Jahre ins Londoner Exil ab. Ungebrochen schwingen sie sich nach der Rückkehr zu höchster Schaffenskraft auf, haben seitdem brasilianische Popmusik federführend mitgeformt.
Sie spielten stets meisterhaft auf der Klaviatur der Stile mit afrikanischen, indigenen, psychedelischen Elementen. Provozierten durch Auflösung des Rollenverständnisses. Und waren immer am Puls der Zeit – Veloso mit elaborierten, philosophischen Texten und seinem großartigen Teamwork mit dem Cellisten Jaques Morelenbaum; Gil seit den Achtzigern auch in der Politik als Grüner und Umweltbewegter, später gar als Kulturminister im Kabinett Lula (2003–2008).
1972: Der lyrische Club an der Ecke :Milton Nascimento & Lô und Márcio Borges
Neben der Tropicália formiert sich in den 1960ern eine zweite künstlerische Bewegung als Antwort auf die zensierende, folternde und mordende Militärdiktatur. Auch sie arbeitet mit einem Patchwork an Stilen, ist aber eher mild als wild, lyrischer und versonnener. Ihre Heimat ist der Bundesstaat Minas Gerais mit seiner Hauptstadt Belo Horizonte. Der Sound dieses »Clube da Esquina« (Club an der Ecke) um den jungen Musiker Milton Nascimento und das Brüderpaar Lô und Márcio Borges ist einzigartig: Bossa-Rhythmen und Progressive Rock a la Genesis werden gepaart mit Farben der klassischen, insbesondere barocken und sakralen Musik, Elementen der afrobrasilianischen Musik, Folklore der Viehhirten und einer starken Vorliebe für das spanische Erbe Lateinamerikas. Der Grundton ist empfindsam, spielerisch, fast kontemplativ. Visionär sind die Verse, die sich mit Metaphern der Traurigkeit und Freiheitssehnsucht gegen die Diktatur wehren.

Auf ihrem ersten Meilenstein, der im März 1972 erscheint, spürt man förmlich in jedem Stück, wie die sensiblen Künstler dem Korsett eines menschen- und kunstverachtenden Regimes, der täglichen Absurdität spirituelle Leuchtkraft und Trost für die Seele entgegensetzen, und das liegt auch an der unvergleichlichen Falsett-Stimme von Milton Nascimento. Der Einfluss des Clube kann kaum überschätzt werden: Der psychedelische, meditative Ton von Minas Gerais spiegelt sich seitdem im Werk vieler Künstler wider, etwa in dem des Sängers und Komponisten Vinicius Cantuária, der vom Progressive Rock kommend eine feine introspektive Tonsprache zwischen cooler Bossa Nova und sanfter Elektronik modelliert hat.
1979: Samba der Amnestie :»O bêbado e a equilibrista« von Joao Bosco
Die ganz dunklen Jahre der Militärdiktatur sind überstanden, auch wenn sie sich noch bis Anfang 1985 halten wird. Freier lässt es sich nun über die Verbrechen und über die Verbannten texten. Ein Songwriter-Paar, das man getrost als die Lennon/McCartney Brasiliens bezeichnen kann, schafft in diesem Klima eine Hymne für die Zeit der politischen Amnestie. Die Musik stammt von Joao Bosco, einem der großen Komponisten der 1970er. In vielen seiner Lieder hat er den Samba zu einer neuen lyrischen Popkunst erhoben. »Als Komponist arbeite ich sehr intuitiv und liebe es, mit den Formen zu spielen«, sagt er.
Inspiriert von Charlie Chaplins Tod und dem Thema der Hoffnung in dessen Filmen, schreibt Bosco einen solchen Samba. Das musikalische Thema ist hörbar an Chaplins »Smile« angelehnt, voller ebenso eleganter und raffinierter Harmonien. Sein dichtender Partner Aldir Blanc (1946–2020) setzt dazu bildgewaltige Verse, in denen berühmte Ermordete gewürdigt werden, Oppositionelle und Exilierte auftreten und ihre Rückkehr gefordert wird. »O Bêbado e a Equilibrista« (Der Säufer und der Seiltänzer) wird schnell zu einer Hymne auf den Kundgebungen, rührt sogar die Polizisten. In der berühmten Interpretation der grandiosen Sängerin Elis Regina (1945–1982) auf der am 15. Juni 1979 lancierten Platte »Essa Mulher« findet der politische Hintergrund des Stücks eine perfekte Balance mit der puren Schönheit brasilianischen Melodieflusses.
Elis Regina singt »O Bêbado e a Equilibrista«
1994: Rosa und kohlrabenschwarz :»Cor-de-Rosa e Carvao« von Marisa Monte
Die Neunziger sind die Dekade, in der die Música Popular Brasileira (MPB) in der internationalen Weltmusik- und Pop-Szene kräftig mitmischt. Ein Album setzt dabei Maßstäbe: »Cor-de-Rosa e Carvao« (Rosa und Kohlrabenschwarz) ist das dritte Werk der Sängerin Marisa Monte, die aus der Umgebung der Sambaschule Portela kommt und ihre Wurzeln mit Soul und Experimental-Pop auflädt. »Bob Marley, Michael Jackson und Stevie Wonder sind in meinem Inneren in Frieden mit dem Samba«, sagt sie.

Ihr Album beherbergt ein grandioses Spektrum an Stilen und Gästen: Der brasilianische Star Gilberto Gil ist neben der Samba- und Chorogruppe Época de Ouro zu finden, Laurie Anderson hat einen Auftritt, am Produktionspult sitzt der New Yorker Avantgardekünstler Arto Lindsay. Monte covert sogar Velvet Underground. Außerdem arbeitet sie in etlichen Songs mit dem Bahianer Carlinhos Brown, der den Klang des Nordostens, die dortigen Trommeln und musikalischen Bögen beisteuert, und der im Jahr darauf wiederum seinen eigenen Meilenstein »Alfagamabetizado« veröffentlicht.
Denn die Neunziger sind auch das Jahrzehnt der afrobrasilianischen Musik: Durch Kooperationen von Paul Simon und Michael Jackson mit der Trommelgruppe Olodum aus Salvador wächst die weltweite Aufmerksamkeit für die afrobrasilianischen Roots. Der Titel von Montes’ Album bezieht sich übrigens auf das Spektrum an Hautfarben der brasilianischen Einwohner:innen, die alle zu dieser einzigartigen Mischkultur beitragen.
1999: Die lyrische Seele Brasiliens :Mônica Salmaso verbindet die brasilianische Musik mit Jazz und Klassik
Ist Rio de Janeiro wirklich Brasiliens Musikhauptstadt? Sicher, hier entstanden Choro, der Samba in moderner Form und die Bossa Nova. Doch genauso gut könnte man eben Salvador da Bahia mit seinem afrobrasilianischen Kosmos zur Klangkultur-Kapitale küren – oder die Megapolis Sao Paulo. Hier, in Brasiliens mit Abstand größter Stadt, existieren unzählige Facetten nebeneinander, von Samba-Soul bis zum Forró, der Tanzmusik der aus dem Nordosten Eingewanderten. Zu Beginn des Jahrtausends entwickelt sich hier außerdem eine psychedelisch gefärbte Indierock-Szene, die mit Namen wie Céu weltweit Furore macht.

Die »alma lírica« aber, die lyrische Seele Sao Paulos, findet man in der Musik einer Frau mit unverwechselbarer Altstimme, die ebenfalls seit ihrem fulminanten Werk »Voadeira«, aufgenommen im August 1999, eine Ausnahmestellung hat: Mônica Salmaso. Sie filtert die Essenzen nahezu sämtlicher Stile des Tropenlandes heraus, macht sich Samba und Choro, die Lieder Bahias und die Rhythmen des Hinterlandes zu eigen, fängt selbst Amazonisches ein. Sie interpretiert die großen Klassiker der MPB wie Milton Nascimento oder Chico Buarque, brilliert im intimen Duo mit Gitarre oder mit großem sinfonischen Orchester. Stets ausgeklügelt und reich instrumentiert sind die Arrangements ihrer Lieder mit den Saxofonen und Flöten ihres Ehemannes Teco Cardoso, mit Klarinetten, Klavier, Akkordeon.
Mônica Salmaso hat die brasilianische Musik hin zum Jazz und zur Klassik entgrenzt. Eine Tugend, die sie mit dem eine Generation älteren Gitarristen, Pianisten und Komponisten Egberto Gismonti teilt, der über Jahrzehnte in beiden Amerikas und in Europa eine spannende, hochvirtuose Tonsprache zwischen Folk-Färbungen der verschiedenen Regionen, Improvisation und Kammermusik schuf, auch auf dem deutschen Label ECM.
2013: Der Soundtrack der Proteste :Emicidas politischer Hip-Hop
Im 21. Jahrhundert hat Brasilien politische Extreme erlebt: Präsident Lula bringt bei der Armutsbekämpfung und im Umweltschutz ab 2003 Einiges auf einen guten Weg, doch bröckeln die Errungenschaften in den 2010ern wieder weg, gipfelnd in der Wahl des Rechtspopulisten Jair Bolsonaro 2018. Doch schon fünf Jahre zuvor, beginnend mit den Straßenprotesten vom 17. Juni 2013, äußert sich der Unmut über Korruption, nicht eingelöste Reformversprechen, die überteuerte Fußball-WM und die Zwangsumsiedlung für die Olympischen Spiele. Der Aufruhr im Volk spiegelt sich in der Musik wider, und der Hip-Hop ist auch in Brasilien dafür das Sprachrohr.

Es ist aber keine blanke Wut, die der führende Rap-Poet Emicida auf seinem zweiten und dritten Album an den Tag legt, die zeitgleich mit den Protesten erscheinen. Emicida, aus ärmsten Favela-Verhältnissen in Sao Paulo stammend, ist geradezu ein Philosoph der Missstände. Mos Def und der Wu-Tang Clan sind seine frühen Vorbilder, und wie seinerzeit die Tropikalisten verknüpft er Samba, afrikanische Töne, Funk und Hip-Hop zu einer fiebrigen Collage, kämpft für die kleinen Leute und gegen Rassismus.
Er zitiert die afrobrasilianischen Gottheiten im gleichen Atemzug mit Martin Luther King, baut eine halb mythische, halb politische Gegenwelt zur Sphäre der Weißen auf. Von einem friedlichen Miteinander ist die brasilianische Gesellschaft derzeit weit entfernt, Künstler wie Emicida sind der Stachel im Fleisch der Gleichgültigkeit. »Ein Alligator, der schläft, wird eine Geldbörse «, kommentiert er. Brasilien, das Land der Diversität und Unvereinbarkeit, bleibt weiter in Bewegung – und die Musik wird immer ihren Beitrag dazu leisten.
Emicida: Passarinhos ft. Vanessa Da Mata
Dieser Artikel erschien im Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 3/24).
Brazilian Legends :Konzerte im Überblick
- Elbphilharmonie Großer Saal
»Os maiores sucessos« – Brazilian Legends
Vergangenes Konzert - Elbphilharmonie Kleiner Saal
João Bosco & Jaques Morelenbaum
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»Psychedelic Rio« – Brazilian Legends
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»Alma Lírica Brasileira« – Brazilian Legends
Vergangenes Konzert - Elbphilharmonie Kleiner Saal
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