»Oh Haupt voll Blut und Wunden« – dieser so eingängige wie berührende Choral steht im Mittelpunkt von Bachs »Matthäus-Passion«. Die Vertonung der Leidensgeschichte Christi gehört zu den bedeutendsten geistlichen Werken überhaupt. Jedes Jahr am Karfreitag wird Johann Sebastian Bachs barockes Mammutwerk unzählige Male aufgeführt: Ob Stadt oder Land, Laien oder Profis – die Begeisterung für die Musik überwiegt bei Weitem die Scheu vor der Länge und riesenhaften Besetzung des Oratoriums. Und riesenhaft besetzt ist das Werk allemal: Gleich zwei Chöre und zwei Orchester verlangt der Thomaskantor für eine Aufführung, dazu eine Reihe von Solisten. In der Elbphilharmonie sind mit dem Freiburger Barockorchester und Vox Luminis gleich zwei Spitzenensembles mit Schwerpunkt auf barocker Musik zu hören. Die Leitung liegt in den Händen von Vox-Luminis-Gründer Lionel Meunier, weltweit bekannt für seine lebendigen und historisch akkuraten Interpretationen barocker Werke.
Besetzung
Freiburger Barockorchester
Vox Luminis
Hamburger Knabenchor
Zsuzsi Tóth Sopran
Gwendoline Blondeel Sopran
Alexander Chance Alt
William Shelton Countertenor
Raphael Höhn Evangelist
Florian Sievers Tenor
Raffaele Giordani Tenor
Sebastian Myrus Jesus
Felix Schwandtke Bass
Leitung Lionel Meunier
Programm
Johann Sebastian Bach (1685–1750)
Matthäus-Passion BWV 244 (1727)
Zum Programm :Evergreen mit Startschwierigkeiten: Bachs »Matthäus-Passion«
Warum interessiert uns die Passionsgeschichte heute eigentlich noch? Ein Drittel aller Deutschen geht überhaupt nicht mehr in die Kirche, ein paar Prozent vielleicht noch an Weihnachten. Und die blutige Geschichte von der Kreuzigung Jesu, all das Leiden und Büßen, Reuen und Strafen, scheint eigentlich nicht mehr so recht in unsere heutige Zeit zu passen. Dennoch ist insbesondere Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion aus unserem Kulturleben nicht wegzudenken, wird sie Jahr für Jahr an zahlreichen großen und kleinen Kirchen von Laien und von Profis aufgeführt und findet mühelos ihr Publikum.
Am Anfang war das Schweigen
Das war nicht immer so. Im Gegenteil: Bei seiner Uraufführung am 11. April 1727 erntete das Werk zunächst einmal – Schweigen. Keine Rezension, kein Bericht vom Leipziger Stadtrat (damals Bachs Arbeitgeber), kein Brief und keine persönliche Notiz ist nach der Uraufführung überliefert. Und es kam noch schlimmer: Nach nur vier Aufführungen zu Lebzeiten des Komponisten verschwand das Werk in der Versenkung. Erst hundert Jahre später wurde es wiederentdeckt – von einem unternehmungslustigen Zwanzigjährigen, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, dem vergessenen Thomaskantor zu neuem Ruhm zu verhelfen. Sein Name war Felix Mendelssohn Bartholdy.
Mit der Aufführung einer stark gekürzten Matthäus-Passion 1829 durch die Berliner Sing-Akademie unter Leitung Mendelssohns wurde nicht nur dieses Werk wieder zu Ehren gebracht. Nein, eine ganze Bach-Renaissance kam ins Rollen, die bis heute anhält. Doch wie kam es zu diesem Wandel? Was hörten Mendelssohns Zeitgenossen in der Matthäus-Passion, was hören wir heute darin, das Bachs Zeitgenossen entging?

Eine Oper in der Kirche?
»Behüte Gott! Ist es doch, als ob man in einer Opéra-Comédie wäre!«, klagt eine Adlige, als sie 1729 der zweiten Aufführung der Matthäus-Passion beiwohnt. Das ist nicht als Kompliment gemeint. Opernmusik in der Kirche war damals unerwünscht – Bach hatte sich sogar eigens vertraglich verpflichten müssen, keine zu opernmäßige Musik zu kirchlichen Anlässen zu schreiben. Und doch trifft die Kritikerin den Nagel auf den Kopf: Bachs Musik zur Matthäus-Passion ist in der Tat von ungeheurer dramatischer Wucht.

Mit zwei Chören, zwei Orchestern und einer Dauer von gut zweieinhalb Stunden sprengt das Werk den Rahmen des damals Üblichen bei Weitem – und Bach holt aus dieser Konstellation alles an Ausdruck heraus, was ihm zu Gebote steht. Schon der überwältigende Eingangschor, »Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen«, steht in der Oratorienliteratur einzig da. Mit seinem als Dialog angelegten Gesang zieht er den Zuhörer unmittelbar ins Passionsgeschehen hinein. Über diesem chorischen Zwiegespräch schwebt eine dritte, nur aus Sopranen bestehende Stimmgruppe mit der Choralstrophe »O Lamm Gottes unschuldig«. Dieser gewissermaßen aus Himmelshöhen herabsteigende Gesang gibt dem Hörer schon zu Beginn des Werkes den Schlüssel zu seiner Deutung an die Hand: Ja, es ist schrecklich, was hier passiert – aber darin steckt eine tröstliche Botschaft, die uns alle angeht.
Zukunftsmusik
Auch im weiteren Verlauf bleibt Bach dabei, das Passionsgeschehen auf zwei Ebenen zu schildern. Auf der reinen Handlungsebene erzählt der Evangelist die Geschehnisse im Wortlaut der Bibel nach. Dabei unterstützen ihn einige Solisten und der Chor in den Rollen von z.B. Pilatus, Petrus, Jüngern oder dem Volk. In den Arien und Chorälen wiederum unterbricht Bach die Nacherzählung. Hier wird das Passionsgeschehen auf einer allgemeineren Ebene reflektiert: Was bedeutet es für die Zuhörer heute? Für jeden einzelnen von uns?
Das alles war an sich nicht neu. Dass eine erzählende und eine reflektierende Ebene sich abwechseln, gab es schon in früheren Oratorien. Kein Komponist vor Bach hat es jedoch geschafft, dieser Erzählweise eine solche dramatische Dichte und Durchschlagskraft einzuhauchen. Und so brauchte es vielleicht tatsächlich die aufkommende Romantik, in der Mendelssohn geboren wurde, um die Matthäus-Passion würdigen zu können. Bach selbst war sich der Bedeutung seines Werks übrigens durchaus bewusst: Die Handschrift der Partitur fertigte er mit besonders großer Sorgfalt an – sie ist bis heute das schönste und kostbarste Autograf aus seiner Feder.

Text: Juliane Weigel-Krämer, Stand: 22.03.2021