Ein Höhepunkt des digitalen Musikfests steht mit der Uraufführung von Toshio Hosokawas Violinkonzert »Genesis« auf dem Programm. Der gebürtige Japaner gilt als der bekannteste lebende Komponist seines Heimatlandes. Seine Werke sind in vielen großen Konzert- und Opernhäusern zu hören. Auch in Hamburg kennt man ihn spätestens seit der Aufführung seiner eindrucksvollen Oper »Stilles Meer« über die Atomkatastrophe in Fukushima. In seinen Kompositionen verbindet Hosokawa traditionelle japanische Musik mit der Musiksprache der westlichen Moderne – »Musik, die sich einlässt auf die verschwindende Zeit und im Einklang steht mit dem Vergänglichen«, wie er es selber beschreibt. Für die Weltpremiere seines neuen Violinkonzertes kehrt die Star-Geigerin Veronika Eberle in die Elbphilharmonie zurück.
Weiter geht es mit Johannes Brahms – denn was wäre ein Musikfest in Hamburg ohne einen der bedeutendsten Komponisten der Hansestadt? »Ich bekomme Sehnsucht, wenn ich an Hamburg denke, und fühle mich immer besonders glücklich, wenn ich dort bin«, schrieb der im Hamburger Gängeviertel geborene Komponist aus seiner späteren Wahlheimat Wien. Wie passend also, dass sich das Philharmonische Staatsorchester – der dienstälteste Klangkörper der Hansestadt – zusammen mit seinem Chefdirigenten Kent Nagano einem Brahms-Zyklus widmet. Nach ihrem fulminanten Erfolg beim Rathaus-Open-Air 2019 mit dessen Erster Sinfonie spielen die Musiker nun die Dritte Sinfonie des Romantikers – ein Werk, »bei dem einem das Herz aufgeht«, schwärmte einst sein Kollege Antonín Dvořák.
Hinweis: Alle Konzerte des Internationalen Musikfests 2021 stehen als kostenlose Streams zur Verfügung und sind nach der Erstausstrahlung für den gesamten Festivalzeitraum abrufbar.
Der Mitschnitt von Toshio Hosokawas Violinkonzert »Genesis« steht nur bis zum 2. Juni 2021 zur Verfügung.
Besetzung
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Veronika Eberle Violine
Dirigent Kent Nagano
Programm
Toshio Hosokawa
Genesis / Konzert für Violine und Orchester (Uraufführung) / Kompositionsauftrag von Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Hong Kong Sinfonietta, NHK Symphony Orchestra, iroshima Symphony Orchestra, Prager Rundfunk-Sinfonieorchester (SOČR) und Grafenegg Festival
Johannes Brahms
Sinfonie Nr. 3 F-Dur op. 90
Gesamtdauer: ca. 60 Minuten
Kent Nagano – Dirigent

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Über Kent Nagano
Als »unaufdringlichen Star unter den Dirigenten« betitelte ihn »Die Zeit«: Kent Nagano gehört zu den herausragenden Persönlichkeiten der internationalen Musikszene. Der gebürtige Kalifornier mit japanischen Wurzeln hat sich insbesondere als Experte für die großen Orchesterwerke des 20. Jahrhunderts einen Namen gemacht. Seit 2015 ist er Hamburgischer Generalmusikdirektor und Chefdirigent des Philharmonischen Staatsorchesters – zwei Ämter, in denen er einmal mehr unter Beweis stellt, dass er nicht nur auf die großen Konzertbühnen gehört, sondern auch ein hervorragender Operndirigent ist. Mit seinem visionären Verständnis von Klang hat der mehrfache Grammy-Gewinner die ohnehin schon große stilistische Breite des Hamburger Orchesters nochmals erweitert.
Als Ehrendirigent ist Kent Nagano gleich mehreren renommierten Orchestern verbunden, darunter das Concerto Köln, das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin und seit Frühling 2021 auch das Orchestre symphonique de Montréal, dessen Leitung er über 14 Jahre lang innehatte. Während dieser Jahre war er zudem Chefdirigent beim Deutschen Symphonie-Orchester Berlin sowie anschließend von 2006 bis 2013 Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper. Höhepunkte der vergangenen Saisons in Hamburg waren Aufführungen von Alban Bergs »Lulu« und George Benjamins »Lessons in Love and Violence« sowie einige viel beachtete Uraufführungen wie Toshio Hosokawas Oper »Stilles Meer« und Jörg Widmanns Oratorium »Arche« anlässlich der Eröffnungsfeierlichkeiten der Elbphilharmonie im Januar 2017.
Veronika Eberle – Violine

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Über Veronika Eberle
»Lass dir Zeit«, hat ihr Mentor Sir Simon Rattle ihr einst gesagt. Gerade einmal 16 Jahre alt war Veronika Eberle, als sie gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern unter Rattles Leitung bei den Salzburger Osterfestspielen 2006 Beethovens Violinkonzert spielte. Dass sich die inzwischen weltbekannte Geigerin diesen Leitsatz bis heute zu Herzen nimmt, lassen ihre bedachten und wohl ausgewählten Konzertprojekte vermuten.
Mit ihrem Auftritt in Salzburg erregte die in Bayern geborene Musikerin internationale Aufmerksamkeit und etablierte sich fortan auf den großen Konzertbühnen der Welt. Für ihr außergewöhnliches Talent und ihre musikalische Reife genießt sie bei den weltweit besten Orchestern sowie bei einigen der bedeutendsten Dirigenten großes Ansehen.
Zu den Höhepunkten der vergangenen Jahre zählen Zusammenarbeiten mit dem London Symphony Orchestra, dem Concertgebouworkest Amsterdam unter Heinz Holliger, dem New York Philharmonic unter Alan Gilbert und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Marek Janowski. Mit Kent Nagano verbindet die Star-Geigerin schon eine lange künstlerische Partnerschaft, zu der in Hamburg unter anderem die umjubelte Aufführung von Alban Bergs berühmten Violinkonzert »Dem Angedenken eines Engels« im Rahmen einer Neuproduktion von dessen unvollendeter Oper »Lulu« an der Staatsoper gehörte.
Veronika Eberle spielt auf einer Violine von Antonio Stradivari aus dem Jahr 1693.
Zur Musik
Ein persönliches Geschenk :Toshio Hosokawas Violinkonzert »Genesis«
»Das Thema hat einen sehr persönlichen Bezug zu mir. Es kamen viele Emotionen und Erinnerungen hoch bei der Einstudierung. Trotzdem würde ich das Werk darauf nicht beschränken, denn es ist viel mehr als das.«
Veronika Eberle
»Ich suche nach einer neuen Form japanischer Musik, in der ich mir selbst und meinen Wurzeln treu bleiben kann. Die abendländische Kultur spielt dabei eine wichtige Rolle, wenn wir uns wirklich kennenlernen wollen.« So formulierte Toshio Hosokawa einmal seine eigene künstlerische Absicht – ein Vorhaben, mit dem er viel Erfolg haben sollte: Der zurückhaltende Künstler gehört zu den bedeutendsten Komponisten seines Heimatlandes und ist weltweit bekannt für seinen Stil, in dem er Ideen der europäischen Avantgarde mit Formen und Klängen traditioneller japanischer Musik kombiniert.
Mit Blick auf diese interkulturelle Symbiose überrascht sein Werdegang wenig: Der in Hiroshima geborene Hosokawa begann sein Studium in Tokio, wechselte aber bald nach Deutschland, wo er seine Ausbildung zunächst in Berlin und später in Freiburg fortsetzte. Von Freiburg aus zog es den kreativen Musiker zu großen Festivals wie den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik, wo er seine Kompositionen präsentieren konnte und sich bald als regelmäßiger Dozent etablierte. In den Folgejahren wuchs sein Ansehen in der internationalen Szene für zeitgenössische Musik und es rieselte Kompositionsaufträge von überall. Zu seinen Arbeiten zählen Werke für die Salzburger Festspiele, die Berliner Philharmoniker und das Festival im französischen Aix-en-Provence. Auch in Hamburg hat er mit seiner Oper »Stilles Meer« über die Katastrophe in Fukushima, die unter der Leitung von Kent Nagano an der Staatsoper uraufgeführt wurde, nachhaltig Eindruck hinterlassen.

1989 gründete Hosokawa – stets seinen Wurzeln treu bleibend – das Akiyoshidai International Contemporary Music Seminar und Festival in Yamagushi, das erste bedeutende Festival für Neue Musik in Japan. Seit 2001 ist er zudem musikalischer Leiter des Takefu International Music Festival in Fukuj. Kurz um: Hosokawas Erfolgsgeschichte spielt sich im ständigen Austausch zwischen der japanischen und der europäischen Kultur ab, auch heute noch lebt der vielfach ausgezeichnete Komponist in der japanischen Stadt Nagano und in Mainz.
Für Hosokawa, dessen Œuvre große Orchesterwerke, Solokonzerte, Kammer- und Filmmusik sowie Arbeiten für traditionelle japanische Instrumente umfassen, ist der Kompositionsprozess mit den Vorstellungen des Zen Buddhismus und dessen Deutung von Mensch und Natur verbunden. So sagt er auch über sein neues Violinkonzert: »Im Konzert steht die Solistin symbolisch für den Menschen, während das Orchester die ihn umgebende Natur und das Universum repräsentiert.« Das stimmungsvolle Konzert mit dem symbolischen Beinamen »Genesis« (Entstehung) widmete er Veronika Eberle und ihrem im November 2019 geborenen Sohn Maxime. Die Geigerin erzählt, dass in den ersten Noten, die ihr Hosokawa zuschickte, noch Bemerkungen standen wie »Singing for Maxime«. »Da ging mir natürlich das Herz auf«, gibt die gebürtige Bayerin zu: »Es hat mich zutiefst gerührt, diese Entstehung mitzuerleben.«

Die »Genesis« eines neuen Menschen wird bei Hosokawa musikalisch durch die Entstehung und Entwicklung einer Melodie der Violine repräsentiert. Er erläutert: »Zu Beginn spielt das Orchester wiederholte Wellenbewegungen, eine Reminiszenz an das Fruchtwasser. Hieraus erwächst eine Melodie der Solovioline. Anfangs imitiert diese die Motive des Orchesters, jedoch wird sie im Verlauf immer unabhängiger. Erst zum Ende findet diese »Lebensmelodie« wieder zu einer Harmonie mit dem Orchester zurück und löst sich schließlich in ihm auf.«
Text: Julika von Werder
Der verliebte Brahms :Brahms: 3. Sinfonie in F-Dur
Den heiteren Grundton von Brahms im Sommer 1883 zu Papier gebrachten Dritten Sinfonie beschrieb sein Protegé Antonín Dvořák einst mit folgenden Worten: »Ich sage und übertreibe nicht, dass dieses Werk seine beiden ersten Sinfonien überragt – vielleicht nicht an Größe und mächtiger Konzeption, aber gewiss an Schönheit! Welche herrlichen Melodien sind da zu finden! Es ist lauter Liebe, und das Herz geht einem dabei auf.«
Damit traf er unwissentlich den Nagel auf den Kopf: Brahms war verliebt. Im Frühjahr 1883 hatte er bei einem Konzert in Krefeld die 26-jährige Altistin Hermine Spies kennengelernt und sie in sein Sommerdomizil in Wiesbaden eingeladen. Sie nannte ihn ihre »Johannespassion«, er schrieb ihr schwärmerische Briefe und zwei Liederzyklen, über die sein Freund Theodor Billroth stichelte: »Sind die Lieder wirklich neu, so hast du einen so kräftigen, gesunden Johannistrieb, wie es deiner unverwüstlichen Natur entspricht.« Zwar wurde am Ende nichts aus der Romanze – immerhin war der Komponist etwa doppelt so alt wie die Sängerin. Seiner guten Laune tat das aber offenbar keinen Abbruch. »Habe ich Ihnen nie von meinen schönen Prinzipien erzählt?« schrieb Brahms einem anderen Freund: »Keine Oper und keine Heirat mehr.«

Der Ton der Musik ist jedenfalls deutlich leichter als der der Ersten. Der Kopfsatz im Walzertakt hat von Anfang an etwas Tänzerisches. Die Musik gerät in Schwung, vorangetrieben durch die Streicher, deren Stimmen synkopisch ineinandergreifen und dabei die schweren Taktbetonungen aushebeln. Im zweiten Themenblock passt Brahms die grazilen Melodien der Holzbläser so ungenau in den Takt ein, dass sich die Melodie ständig verschieben muss. Das Spielerische steht im Vordergrund.
Ganz in diesem Sinne hat Clara Schumann auch den zweiten Satz beschrieben: »Hier belausche ich die Betenden um die kleine Waldkapelle, das Rinnen der Bächlein, Spielen der Käfer und Mücken – das ist ein Schwärmen und Flüstern um einen herum, dass man sich ganz wie eingesponnen fühlt in all die Wonnen der Natur«. Für den Ton dieses Naturidylls sind vor allem die Holzbläser zuständig, während Horn und Streicher den dritten Satz im Stile eines elegischen »Valse triste« prägen.

Dass Brahms auch in dieser glücklichen, produktiven Zeit seine Werke nicht en gros hervorbrachte, ist seiner komplizierten Kompositionsweise geschuldet. Allzu sehr misstraute er dem »schönen Einfall« und seinem Anteil am Gesamtwerk: »Das, was man Erfindung nennt, ist höhere Eingebung, Inspiration, das heißt, dafür kann ich nichts. Von dem Moment an kann ich dieses ›Geschenk‹ gar nicht genug verachten; ich muss es durch unaufhörliche Arbeit zu meinem rechtmäßigen, wohlerworbenen Eigentum machen.« Das kompositorische Handwerk stand für ihn im Vordergrund, nicht das Genie. Damit unterscheidet sich Brahms deutlich von Komponisten wie Mozart, die in manchen Werken eine Ohrwurm-Melodie an die andere reihen, ohne sich groß um eine raffinierte Verarbeitung zu kümmern.
Konkret schlägt sich diese Haltung bei Brahms in einer Vielzahl von motivischen Querbezügen nieder, die auch die gesamte Dritte Sinfonie durchziehen. Fast jedes Thema und jede Begleitfigur gehen auf eine Grundfigur zurück, in diesem Fall die Tonfolge f-as-f. Sie ist schon in den mächtigen Akkorden verborgen, die die Sinfonie eröffnen, und von da an begleitet sie uns das ganze Stück – eine wahre Fundgrube für Musikwissenschaftler. Wir wollen Ihr analytisches Hörvermögen an dieser Stelle nicht überstrapazieren, aber wenn Sie sich dieses Motiv einprägen, werden Sie es an vielen Stellen wiedererkennen. Die innere Verknüpfung zeigt sich besonders deutlich im letzten Satz, der viele Figuren wieder aufgreift. Ganz offensichtlich ist das wörtliche Zitat des Hauptthemas aus dem Kopfsatz in den letzten Takten der Sinfonie. Diese Verwandtschaften sorgen dafür, dass man das Stück als geschlossenes Ganzes wahrnimmt.
Text: Clemens Matuschek
Gefördert durch die Kühne-Stiftung, die Behörde für Kultur und Medien Hamburg, die Stiftung Elbphilharmonie und den Förderkreis Internationales Musikfest Hamburg
Stand: 12. Mai 2021