Ariel Ramirez: Misa Criolla
Geistliche Musik gehört zu den Eckpfeilern der abendländischen Kulturgeschichte, seit der Komponist Pierluigi Palestrina Mitte des 16. Jahrhunderts den Papst überzeugte, dass Kirchenmusik durchaus opulenter ausfallen dürfe als nur einstimmig gesungen – so jedenfalls will es die Legende. Seither hat fast jeder große Komponist eine persönliche Messvertonung vorgelegt. Eine besonders originelle Variante lieferte 1964 der argentinische Komponist und Volksmusikforscher Ariel Ramírez. Seine »Misa Criolla« basiert auf den traditionellen Tänzen Südamerikas, indianischen, spanischen und afrikanischen Einflüssen. Statt eines Orchesters begleiten hier Panflöte, Gitarre und Maracas die Sänger, und in der Kirchenbank hält es bei diesen hüftschwingenden kreolischen Klängen niemand.
»Gloria« aus der Misa Criolla

Dies ist ein Artikel aus dem Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 02/2020), das drei Mal pro Jahr erscheint.
Olivier Messiaen: Vingt regards sur l’enfant-Jésus
»Alle Musik, die sich in Ehrerbietung dem Göttlichen, dem Heiligen und dem Unaussprechlichen nähert, ist religiöse Musik im vollen Wortsinne.« So definierte der Komponist Olivier Messiaen Glaubensmusik. Obwohl er über 60 Jahre als Organist an einer Pariser Kirche wirkte, gehen seine Werke oft weit über den liturgischen Rahmen hinaus. So auch sein zweistündiger Klavierzyklus »Vingt regards sur l’enfant-Jésus« (Zwanzig Blicke auf das Jesuskind) von 1944. Darin imaginiert er nicht nur die Gefühle, die einst Maria und Joseph beim Anblick des Kindes in der Krippe empfunden haben mögen. Der Synästhet und passionierte Ornithologe bringt auch seine geliebten Vogelrufe, überbordende Klangfarben, »Stalaktiten, Spiralen, Galaxien und Lichtquanten« unter – und eine extrem komplexe Fuge als Spiegelbild der göttlichen Schöpfung.
Aretha Franklin: Amazing Grace
»Amazing Grace: das kirchenmusikalische Äquivalent zur Sixtinischen Kapelle«
Produzent Jerry Wexler
»Respect«, »Think« – mit diesen und unzähligen weiteren Hits hat sich Aretha Franklin (1942–2018) ihren Platz als »Queen of Soul« in der Musikgeschichte gesichert. Die stimmliche Power wurde ihr in die Wiege gelegt: Ihr Vater, Reverend C. L. Franklin, war ein feuriger Baptistenprediger, der sie oft im Gottesdienst auftreten ließ. 1972 besann sie sich auf ihre Wurzeln und nahm in der New Temple Missionary Baptist Church in Los Angeles live das Gospel-Album »Amazing Grace« auf, »das kirchenmusikalische Äquivalent zur Sixtinischen Kapelle« (Produzent Jerry Wexler) und die meistverkaufte Gospel-Platte aller Zeiten. Erst kürzlich tauchte der Film-Mitschnitt der Session wieder auf – und so konnte man im Kino nicht nur Arethas großen, Wohlklang verströmenden Mund bewundern, sondern auch den hingerissenen Mick Jagger im Publikum.
Nusrat Fateh Ali Khan
Noch eine Stimme, deren Wucht, Wärme und Wohlklang man sich unmöglich entziehen kann: Der Pakistani Nusrat Fateh Ali Khan (1944–1997) gilt als wichtigster Protagonist des Qawwali-Gesangs und überhaupt einer der größten Vokalisten aller Zeiten. Seine geistige Heimat war der Sufismus, jene Strömung des Islam, die den Zugang zu Gott in Mystik und Ekstase sucht. Über Stunden hinweg konnte er sich und seine Anhänger in Trance singen, begleitet vom traditionellen Qawwali-Ensemble aus Trommeln und handbetriebenem Harmonium. Dank der von Peter Gabriel ausgelösten Weltmusik-Welle verbreitete sich seine Musik in den Achtzigern rund um den Globus und wurde auch oft für Filmsoundtracks genutzt, etwa für »Die letzte Versuchung Christi«.
Arvo Pärt: Magnificat
Was macht gute Musik aus? »Ich habe entdeckt, dass es genügt, wenn ein einziger Ton schön gespielt wird«, lautet die Antwort von Arvo Pärt. Diese Erkenntnis setzte der estnische Komponist ab Mitte der 1970er-Jahre in Musik von meditativer Einfachheit um: Oft wiederholt er über lange Strecken nur einen simplen Dreiklang. Seine Faszination für den Gregorianischen Gesang und schwebende Harmonien spiegelt sich im »Magnificat« (1989). Damit setzte er sich allerdings zwischen alle Stühle: Dem Sowjet-Regime, dem Pärt sich bald durch Emigration entzog, waren solche geistlichen Sujets suspekt, den westlichen Avantgarde-Kollegen seine bald einsetzende Popularität und die Einfachheit seiner Musik. Pärt nahm’s locker: »In der Kunst ist alles möglich, aber nicht alles nötig.«
»Es genügt, wenn ein einziger Ton schön gespielt wird.«
Arvo Pärt
John Coltrane: A Love Supreme
Tagsüber schlafen, nachts spielen, ein Landstreicher mit dem Saxofon in der Hand, abgerissene Klamotten, aber immer genug Alkohol und Heroin – dieses Image eines Jazzmusikers pflegte auch John Coltrane (1926–1967) lange Zeit. So lange, bis der Saxofonist der legendären Platte »Kind of Blue« 1957 hochkant aus Miles Davis‘ Band flog. Seine Karriere hätte zu Ende sein können, doch er erlebte »durch die Gnade Gottes eine spirituelle Erweckung, die mich zu einem reicheren und produktiveren Leben führte«. Eines Morgens kam er die Treppe herunter »wie Moses, der vom Berg herabsteigt« (so seine Ehefrau Alice), im Kopf ein neues Album, das er im Dezember 1964 in einer einzigen Session aufnahm: »A Love Supreme«. Es reflektiert seine Hinwendung zu Gott, gipfelnd in einem Psalm – und bildete ganz nebenbei einen wichtigen Schritt hin zum Free Jazz.
Andrew Lloyd Webber: Jesus Christ Superstar
»Die rockige Produktion erzählt zwar brav die Geschichte der Kreuzigung nach, lässt aber die Auferstehung weg.«
»Blasphemie!«, schrien die einen. Jesus Christus als Musicalstar – unerhört, zumal die rockige Produktion zwar brav die Geschichte der Kreuzigung nacherzählt, aber die Auferstehung weglässt. Auf der anderen Seite protestierten jüdische Verbände gegen die antisemitische Darstellung der Hohepriester. Prompt liefen Andrew Lloyd Webber und sein Texter Tim Rice am Broadway gegen Wände an und brachten 1970 ihre Produktion notgedrungen nur als Platte heraus. Doch die Aufregung legte sich bald, und »Jesus Christ Superstar« avancierte zu einem der erfolgreichsten Rock-Musicals überhaupt. Selbst Radio Vatikan strahlte die Musik mit dem Segen von Papst Paul VI. aus, und der Song zum Letzten Abendmahl schaffte es unter der Nummer 188 sogar ins »Gotteslob«.
Text: Clemens Matuschek, Stand: 14.4.2020