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Sophie Hunger: Ausbrechen, Heimkommen

Sophie Hunger gestaltet ein Reflektor-Festival in der Elbphilharmonie – das in seiner Unberechenbarkeit auch die Vielseitigkeit der Schweizer Singer-Songwriterin abbildet. Ein Portrait.

Text: Stefan Franzen, 1.10.2024

 

»Ich habe nichts studiert, ich bin so die Feld-Wald-Wiesen-Hobbymusikerin. Und ich bin einfach größenwahnsinnig.« So charakterisierte sich Anfang 2009 die damals 25-jährige Sophie Hunger, und das war beides zugleich, kokettes Understatement und gesundes Selbstbewusstsein – eine irgendwie typische Mischung für diese junge Schweizerin, die seinerzeit für uns Deutsche scheinbar aus dem Nichts kam. Gerade war ihr Debüt »Monday’s Ghost« erschienen, war wie eine Rakete auf Platz 1 der Schweizer Charts geschnellt. Vom Publikumsliebling avancierte sie auch hierzulande rasch zum Feuilleton-Darling, mit klugen, rätselhaften und hintergründigen Texten, einer außergewöhnlichen Tonsprache zwischen Folk, Kammerjazz und Indie-Rock – und, ja, mit einer unvergleichlichen Bühnenpräsenz.

Es gibt in der Schweizer Musikszene eine Zeit vor und eine nach Sophie Hunger. Gewiss, man fand bei den Eidgenossen immer schon tollen Mundart-Rock wie den von Patent Ochsner oder Züri West. Die Helvetier beglückten die Welt mit erfolgreichen Dance-Acts von Yello bis DJ Bobo, brachten in jüngerer Zeit auffällig viele Rap-Eminenzen hervor. Und als Urvater, oft latent als Influencer für unterschiedlichste Genres, stand im Hintergrund der Berner Liedermacher Mani Matter, 1972 viel zu früh bei einem Autounfall ums Leben gekommen, wortgewaltig, liebenswert, skurril. Doch einen tiefgründigen, spielerischen, kosmopolitischen Autorenpop wie den von Sophie Hunger, den gab es in der Confoederatio Helvetica zuvor halt nicht.

Sophie Hunger
Sophie Hunger © Jerome Witz

Sophie Hunger, die eigentlich Emilie Jeanne-Sophie Welti heißt, ist wie geschaffen für die Gestaltung eines Reflektors in der Elbphilharmonie, denn sie bezieht ihre künstlerischen Nährstoffe aus den unterschiedlichsten Quellen und Weltgegenden, und entsprechend vielseitig ist denn auch ihre eigene Kunst. Das ist auch durch ihre Vita bedingt: 1983 wird die Diplomatentochter in Bern geboren, wächst in London, Bonn und Zürich auf, wird von Jazz über Punk bis hin zur Volksmusik im Elternhaus breit versorgt. Sie sang schon früh in den Bands Superterz und Fisher. Veröffentlichte ein Home-Demo namens »Sketches on Sea«, auf dem sie noch ein bisschen mit Mischformen zwischen Folk und Hörspiel experimentierte. Und übernahm eine Rolle in einem Spielfilm ihres Landsmannes Micha Lewinsky, »Der Freund«.

Reflektor Sophie Hunger :20.–23. März 2025

Ein langes Wochenende mit der einzigartigen Singer-Songwriterin in allen Facetten – mit Band, Orchester, Film, Literatur und vielen Gästen

DOPPELBÖDIG, BILDGEWALTIG

Als Startschuss für die wirklich große Karriere aber gilt ihr Album »Monday’s Ghost« von 2008. Doppelbödig und bildgewaltig sind die Texte auf diesem Album: Ganze Städte brennen und Landstriche versinken in den Fluten, Motive des klassisch-romantischen Dichters Johann Peter Hebel verbinden sich mit einem Zitat aus dem berühmten Schweizer »Guggisberglied«, Hunger zerpflückt Parolen von populistischen Politikern und spiegelt Bob-Dylan-Phrasen. Das alles passiert auf Englisch, Französisch und Deutsch, eher selten auf Züritüütsch. »England hat mir die Sprache geschenkt«, erklärte sie damals. »Und zwar nur genau so viel, dass ich damit leichtfertig umgehen kann. Ich spreche Englisch nicht gut genug, dass ich mir der Schwere der Sprache immer bewusst wäre, so wie ich das im Deutschen bin. Deutsch singen ist viel schwieriger für mich, weil ich mir jede Interpretation vorstellen kann. Dem Englischen gegenüber habe ich eine gewisse Naivität behalten, die mir hilft. Auf Schweizerdeutsch hingegen kann ich mir alles erlauben, weil ich das Gefühl habe, dass ich die Sprache besitze.«

Über Hungers Schlagfertigkeit und ihre manchmal unerwarteten, aber stets präzisen Antworten freuen sich Journalisten nicht immer. Manche sind irritiert, weil sie sich so gar keinen Small-Talk-Regeln unterwirft. Und auch musikalisch bleibt sie unvorhersehbar: Ähnlich wie bei den gesprochenen Sprachen, eroberte sie sich im Verlauf ihrer mittlerweile acht Platten verschiedene musikalische Idiome.

Sophie Hunger: »1983« (live)

Auf »1983« etwa, ihrem 2010 erschienenen zweiten Album, schiebt sich eine Indiepop-Färbung in den Mittelpunkt. Der Titelsong ist eine Widmung an ihr Geburtsjahr, zornig und ein wenig wehmütig zugleich: »Komm, bitte sing mir ein Volkslied, auch wenn es das nicht mehr gibt«, dichtet sie im Refrain, scheint damit die Unwiederbringlichkeit des Alten im Zeitalter der Digital Natives zu reflektieren. In der versonnenen Ballade »Train Song« entwirft sie das Bild eines Zuges, in dem wir alle zusammensitzen, den wir nicht mehr anhalten können, obwohl wir wissen, dass wir das dringend müssten. Gemünzt war das auf die Finanzkrise, man könnte es ebenso gut auf den Klimawandel übertragen oder auf den religiösen Fundamentalismus. Das ist das Starke an ihren Versen: Sie scheinen immer mal wieder auf politischem Parkett zu tanzen, kreieren aber durch ihre Metaphern lyrische Unschärfe, entziehen sich einer eindimensionalen Deutung.

ATEMSTOCKENDE KONZENTRATION

Sophie Hungers Botschaften horcht man gerne nach, so wie man ihre Klänge gerne nachwirken lässt. Spielt sie beispielsweise den »Train Song« live, bleibt es nach dem offenen Schlussakkord oft unglaublich lange still (zumindest für ein Popkonzert), wie überhaupt während ihrer Shows oft eine atemstockende, konzentrierte Atmosphäre zu spüren ist, egal ob im Pariser Bataclan, im Berliner Tempodrom oder in der Basler Kaserne. Da geht etwas aus von ihrer Bühnenpräsenz, das unbedingte Aufmerksamkeit fordert. Das gilt für stille Momente ebenso wie für die widerborstigen Rockhymnen, die mehr werden seit dem Album »Supermoon« (2015), seit sie auch mal selbst zur Noise-Gitarre greift.

Zwischen der überwältigenden Natur Kaliforniens und ihren neuen Heimaten Paris und Berlin ist sie auf diesem zentralen Werk ihrer Karriere unterwegs, entwirft mit »Die ganze Welt« das Psychogramm einer obsessiven Liebe, mit »Weltmeister« eine defätistische Garagenrock-Nummer und mit »Universum« ein fantastisches Thekengespräch zwischen dem erschöpften Homo sapiens und – eben dem Universum.

Auch ihr Verhältnis zu den eigenen Wurzeln reflektiert sie, in dem Lied »Heicho« (Heimkommen). Dass sie, die Schweizflüchtige, zum Sterben zurückkehren will, sei »eine Liebeserklärung! Schließlich komme ich ja fürs Wichtigste wieder nach Hause. Das ist überhaupt nicht bösartig gemeint.« Ihr Verhältnis zur Schweiz als »gespalten« zu bezeichnen, wäre herbeigedichtet. Ein bisschen ambivalent ist es aber sehr wohl: »Man kann sich der natürlichen Schönheit und dem Komfort der Schweiz nicht entziehen«, gibt sie zu. »Dass aber darin auch ein Trugschluss liegt, provoziert ein ständiges Ausbrechen. Die Unversehrtheit, wie sie in der Schweiz vorzufinden ist, ist viel leicht nur möglich durch das gekonnte Verstecken von Leid.«

GRENZENLOSE MÖGLICHKEITEN

Ausbrechen, das tut sie immer wieder. In Berlin preist sie die grenzenlosen Möglichkeiten des Schöpfens aus dem Nichts, und auch Paris wird mehr als ein temporärer Zufluchtsort. Der Flirt mit der Kultur dieser Metropole reichte so weit, dass die Pariser Philharmonie sie 2015 beauftragte, eine Ausstellung über David Bowie musikalisch zu begleiten. Ihre Liebe zum französischen Chanson wiederum zeigt sich vielgestaltig in mehreren Coverversionen: mit einer zur Blaupause avancierenden Version von »Le vent nous portera«, gegen die das Original von Noir Désir verblasst; mit dem trennungsabgründigen »Avec le temps« von Léo Ferré; mit Romy Schneiders »La chanson d’Hélène«, das sie mit dem Edelkicker Éric Cantona einsang.

Sophie Hunger: Le Vent Nous Portera (2009)

Und wo wir schon beim Sport sind: Hungers originelle Kommentare zur deutschen Bundesliga sind legendär, und beim Kommentieren vom Sessel aus bleibt es nicht. Im Video zu »LikeLikeLike« dribbelt sie sich pfiffig durch die Pariser Innenstadt.

Und noch einmal schlägt Sophie Hunger ein neues musikalisches Kapitel auf: weg von den Rockgitarren, hin zu sanften Analog-Synthesizern und einem spielerischen, bunten Eighties-Sound auf den letzten Solowerken »Molecules« (2018) und »Halluzinationen« (2020). Oft fühlt man sich hier zurückversetzt in die Ära von Depeche Mode und The Human League. Es ist, als hätte Hunger aus ihren technoiden Nächten im Berliner Berghain für sich eine milde Electronica-Sorte herausgefiltert. Eine Klangfarbe, die für sie ein probates, sehr persönliches Mittel war, den Schmerz über eine Trennung aufzufangen. Aber auch, um von weiblicher Selbstermächtigung zu erzählen (»She Makes President«).

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»Hamburger haben sich die Konversation mit der Welt angewöhnt, sie müssen sich austauschen, um voranzukommen. Das bringt mich auf Gedanken!«

Sophie Hunger

Die Schweiz aber liegt Sophie Hunger bei all den Stationen wohl doch am meisten am Herzen. In den letzten Jahren hat sie ihre Aktivitäten wieder verstärkt dorthin verlegt: Ihr wunderbares Cover des Mani Matter-Liedes »Dene wos guet geit« (2019) mit dem Songwriter Bonaparte und ihre Trio-Platte »Ich liebe dich« (2020) mit den Landsleuten Faber und Dino Brandão als intime, lebensbejahende Reaktion auf die Lockdown-Ära sprechen für die Verbundenheit mit der aktuellen helvetischen Szene. Tatsächlich lebt sie nun auch wieder dort, am Genfer See, »ein Himmel auf Erden, eine Art Endstation«, sagt sie. – Endstation? Heim zum Sterben?

Sicher nicht! Denn jetzt, mit knapp über 40, ein Reflektor in der Hamburger Elbphilharmonie. Für eine heimgekommene Weltbürgerin der geeignete Anker; das Offene, das Hanseatisch-Weltgewandte kommt ihr entgegen. »In Hamburg ruft das Meer nach einem, aber nicht mit Lieblichkeit, sondern mit Durchzug und Gefahr«, sagt sie. »Es ist ein bewegtes Gewässer, das Geschichten erzählt vom Ein- und Ausziehen, nicht vom Stillstand. Hamburger haben sich die Konversation mit der Welt angewöhnt, sie müssen sich austauschen, um voranzukommen. Das bringt mich auf Gedanken!«

HARMONIE VON FORM UND INHALT

Schon einmal, 2021, war Sophie Hunger in der Elbphilharmonie zu Gast, mit Faber, Dino Brandão und einem Streichquartett. »Das Haus wurde ja von Deutsch-Schweizer Architekten gebaut, es war also eine der wenigen Moment im Leben der Elbphilharmonie, in der Form und Inhalt harmonisch ineinander übergingen«, erinnert sie sich verschmitzt. Besonders gefällt ihr, dass sie jetzt beim Reflektor in verschiedenen Disziplinen aufspielen darf, von der Sinfonik über eine Lesung ihres Romans »Walzer für Niemand« bis hin zum cineastischen Element mit der Projektion des Animationsfilms »Ma vie de Courgette«, für den sie die Filmmusik geschrieben hat.

Die Gedanken, auf die Hamburg sie bringt, manifestieren sich in einem aufregend heterogenen, kosmopolitischen Programm. Ihre Einladungen an den kauzigen welschschweizerischen Trompeter Erik Truffaz und ihren langjährigen Compagnon, den Jazzschlagzeuger Julian Sartorius, repräsentieren die erste Heimat. »Die Welt ist sein Instrument«, schwärmt sie von Sartorius, »er schlägt sie an und befreit die Klänge aus den Dingen, die er dort eingesperrt weiß. Jeder, der ihn auf seinen performativen Spaziergängen begleitet, kommt verzaubert davon zurück.«

Dann aber auch eine tour d’horizon über den Erdball: Eine dramatische Melancholie wie beim Liederschreiber Patrick Watson aus Montreal findet man durchaus seelenverwandt in ihren Liedern. Hungers jüngst entdeckte Vorliebe für analoge Elektronik spiegelt sich in der Arbeit der japanischen Keyboarderin Hinako Omori, die auch auf Hungers letzten beiden Alben zu hören ist. Und schließlich das Metropol Orkest, das die vor Kurzem schon in Bern erprobte Orchestrierung einiger ihrer Songs weiterführt. »Das Orkest hat eine ganz eigene Konfiguration, ist viel flexibler und rhythmischer als ein klassisches Sinfonieorchester. Außerdem habe ich meinen vierköpfigen ›Halluzinationen‹-Chor dabei, der wieder eine kaleidoskopische Rolle spielen soll. Der Abend soll sehr dynamisch werden, von groß angelegten sinfonischen Bewegungen bis hin zu zerbrechlichen, solistischen Momenten.«

Gewiss wird bei all dem auch Sophie Hungers besonderes Live-Charisma erlebbar, das jedes Auditorium ganz still werden lässt. Wie sie das schafft, hat sie einmal für sich und ihre Band ganz bescheiden kommentiert:

»Wenn wir rausgehen, haben wir einfach eine große Berufsehre. Wir wollen uns dem Abend hingeben und den Menschen und der Musik. Wir gehen nicht mit den Händen in den Hosentaschen auf die Bühne. Und diese stillen Momente, die machen eigentlich nicht wir, die macht das Publikum. Es ist eine gemeinsame Erfindung, man schließt für diesen Moment einen Vertrag. Das ist eine Form von Vertrauen – oder Liebe.«

Dieser Artikel erschien im Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 1/25).

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