»The most beautiful sound next to silence« gilt als Motto des Musiklabels Edition of Contemporary Music (ECM), das 1969 vom jungen Kontrabassisten Manfred Eicher gegründet wurde. 50 Jahre und zahllose epochemachende Alben wie Keith Jarretts »Köln Concert« später zählt Eicher zu den wegweisenden Musikproduzenten des 20. Jahrhunderts.
ECM ist längst ein Gütesiegel, dessen Neuerscheinungen Kenner und Musikliebhaber blind kaufen. Sein Jubiläum feiert Eicher 2020 mit einem selbst kuratierten Festival in der Elbphilharmonie, zu dem er vom 3. bis 6. Februar handverlesene ECM-Künstler mitbringt. Hier stellt er sie vor.
Reflektor Manfred Eicher
In der Reihe erhalten ausgewählte Künstler symbolisch den Schlüssel zur Elbphilharmonie. Das heißt: Sie bestimmen das Programm. Vom 3. bis 6. Februar 2020 ist Manfred Eicher an der Reihe.

»Seine Klarheit, seine Einfachheit, dieser Mut, alles Überflüssige abzuwerfen.«
Manfred Eicher
Arvo Pärt
Gern erzählt Manfred Eicher, wie er den estnischen Komponisten Arvo Pärt für sich entdeckte: »Das war auf einer Fahrt von Stuttgart nach Zürich, 1981 oder 1982, eine einsame Nacht. Im Radio lief eine tolle Musik, und ich bin extra von der Autobahn runter, um das besser empfangen zu können. Aber ich habe nicht erfahren, von wem das war, und habe ein halbes Jahr lang nachgeforscht.« Besonders fasziniert ihn »seine Klarheit, seine Einfachheit, dieser Mut, alles Überflüssige abzuwerfen.« Mit dem Album Tabula rasa von 1984 begann eine »symbiotische Zusammenarbeit« – und Arvo Pärts Weltruhm.

Louis Sclavis
Der Klarinettist Louis Sclavis kam zu ECM, als er bereits einer der maßgeblichen Jazzmusiker in Frankreich war, Anfang der 1990er. Seither sind dreizehn Alben in unterschiedlichen Besetzungen erschienen, zuletzt ein Meisterwerk: In »Characters on a Wall« vertieft sich Sclavis mit Klavier, Kontrabass und Schlagzeug in die Straßenkunst des Ernest Pignon-Ernest. Der holt den palästinensischen Dichter Mahmoud Darwish als Schwarzweißbild an einer bunten Hauswand in Ramallah ebenso ins tägliche Leben zurück wie den Regisseur und Dichter Pier Paolo Pasolini – den Manfred Eicher übrigens noch selbst getroffen hat.

»Ein Zeitgeist, der nichts Triviales sucht. Manchmal meint man bei ihm, die Zeit knistert.«
Manfred Eicher
Heiner Goebbels
»Bei den 68ern galt Kultur in der politischen Szene als nicht diskutabel – aber ich bin Gott sei Dank ja ein 71er«, erklärt der Komponist Heiner Goebbels, Jahrgang 1952, im Booklet zu »Eislermaterial«. Aus dem Weiterkomponieren der politischen Musik Hanns Eislers ist eines seiner populärsten Alben bei ECM geworden; das erste erschien bereits 1981. »Ich fand seine Frechheit und Dialektik immer spannend«, sagt Manfred Eicher. »Ein Zeitgeist, der nichts Triviales sucht. Manchmal meint man bei ihm, die Zeit knistert. So etwas wie ›Der Mann im Fahrstuhl‹ von 1988 ist heute genauso modern wie damals.«

»Es war der Ton, die Phrasierung, die ganze Auffassung von Musik, die mich an ihr fasziniert hat.«
Manfred Eicher
Kim Kashkashian
Wie Arvo Pärt zählt Kim Kashkashian zu den Musikern, die Manfred Eicher beim Radiohören entdeckte. Sie spielte Violamusik von Hindemith, wie dann auch auf dem ersten ihrer mittlerweile fast 30 ECM-Alben. Dazu musste Eicher die Bratscherin aber überreden. »Ich habe sie in Lockenhaus getroffen, und sie wollte gar nichts aufnehmen! Aber ich war hartnäckig – ich wollte die Kim für eine Aufnahme gewinnen! Es war der Ton, die Phrasierung, die ganze Auffassung von Musik, die mich an ihr fasziniert hat.« Ihre jüngste Aufnahme gilt Bachs Suiten für Cello solo – und bei ihr klingen sie, als habe der Komponist an eine Viola gedacht.

»Die Musik passt genau in diese Zeit und ist doch zeitlos.«
Manfred Eicher
Anouar Brahem
Im Dezember 2010 begann mit Aufständen in Tunesien, was inzwischen als »Arabischer Frühling« schon wieder Geschichte ist. Den 1957 in Tunis geborenen Oud-Spieler Anouar Brahem, der seit 1989 für ECM aufnimmt, berührte das tief, und Jahre danach komponierte er mit »Souvenance« ein Werk, in dem er, wie er sagt, »versucht, mit den Emotionen des Moments zu reagieren«. Diese Musik verbindet die arabische Laute mit dem Streichorchester und den nahen Horiont mit einem weiteren. »Sie passt genau in diese Zeit und ist doch zeitlos«, so beschreibt Manfred Eicher das Potential einer aktuellen Musik.

»Meredith ist eine Schwester im Geiste.«
Manfred Eicher
Meredith Monk
»Meredith ist eine Schwester im Geiste«, sagt Manfred Eicher über die amerikanische Multikünstlerin Meredith Monk, eine Pioniergestalt der Performancekunst, deren vokale Abenteuer sich zwischen Lachmöwen in der Kehle und Liedern ohne Worte bewegen. »Dolmen Music« war 1981 ihr erstes Album bei ECM. Ihre jüngste Aufnahme ist gerade fertig, und Eicher findet sie »sogar noch dichter als frühere. Meredith ist jetzt 77 und genauso vital wie am Anfang. Wenn wir einverstanden miteinander sind, nachdem wir wieder einmal gerungen haben – dann ist die Erleichterung groß und die Musik einfach da.«

»Er ist ein unheimlich purer Musiker.«
Manfred Eicher
Egberto Gismonti
Egberto Gismonti kam 1947 in Brasilien zur Welt, lernte Klavier und Gitarre, nahm Kompositionsunterricht in Paris und entdeckte dann die Musik der Amazonas-Ureinwohner für sich – die wichtigste Quelle dieses Jazzmusikers. Schon sein ECM-Debüt »Dança das Cabeças« führte 1977 tief hinein in den Regenwald, entstand aber in Oslo, zusammen mit dem Perkussionisten Naná Vasconcelos. »Da haben die beiden zum ersten Mal Schnee gesehen«, erinnert sich Manfred Eicher. »Gismonti ist ein unheimlich purer Musiker, er spielt wie damals, hat sich aber auch entwickelt und ist viel ruhiger und zarter geworden.«

»Musik, die im Raum steht. Große Musik.«
Manfred Eicher
Avishai Cohen
Avishai Cohen – nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Bassisten! – ist mit 31 Jahren der jüngste Musiker in Manfred Eichers Hamburger Team. Er knüpft mit seinem Spiel an die Kunst des Jazztrompeters Miles Davis an, dessen Aufnahme »Kind of Blue« Eicher zur Gründung seines Labels inspirierte. 1978 in Tel Aviv geboren, lernte Cohen als Achtjähriger Trompete spielen. Als Jazzer fand er in New York seine Basis. Die Jazz Times schrieb: »Wie Davis macht er die Trompete zum Mittel ergreifendster menschlicher Rufe.« Manfred Eicher hört bei Cohen »eine Musik, die irgendwie im Raum steht. Große Musik.«

»Das sind keine Musiker, die etwas ausstellen wollen.«
Manfred Eicher
Anja Lechner
Wie die Bratschistin Kim Kashkashian, wie Pianist Keith Jarrett zählt die Cellistin Anja Lechner zu den Musikern, die Manfred Eichers Interesse am Verbinden der »Territorien« geradezu verkörpern. In Kassel geboren, Studentin von Heinrich Schiff, machte sie viele ECM-Aufnahmen mit dem Rosamunde-Quartett – etliche preisgekrönt –, improvisierte mit dem argentinischen Akkordeonisten Dino Saluzzi und nähert sich auch Franz Schuberts Liedern so sensibel wie uneitel. Letzteres eine Qualität, die Manfred Eicher an allen seinen Künstlern mag: »Das sind keine Musiker, die etwas ausstellen wollen.«
Text: Volker Hagedorn, Stand: 12.12.2019