Der Klang der Gegenwart im Großen Saal: Beim Festival »Elbphilharmonie Visions« steht ausschließlich zeitgenössische Musik auf dem Programm. Das ist nicht nur musikalisch spannend, sondern bietet auch die großartige Chance, den Komponist:innen Fragen zu ihren Werken und zum Komponieren selbst zu stellen. Wie funktioniert Komponieren überhaupt? Haben sie vorher schon eine konkrete Vorstellung von dem Werk oder entsteht es erst beim Schreiben? Was für eine Rolle spielt die Umgebung? Und was wünschen sie sich für ihre Musik?
Davon berichten die Komponist:innen des Festivals in Kurzinterviews – in dieser Ausgabe mit dem Österreicher Johannes Maria Staud. Bei »Elbphilharmonie Visions« steht sein Werk »Whereas the Reality Trembles« auf dem Programm.
Was inspiriert Sie als Komponist?
Alles. Kunst, Literatur, Film, Politik, Gesellschaft, Natur, menschliche Interaktionen in verschiedensten Ausprägungen, musikalische Problemstellungen (Harmonik, Rhythmik etc). Affekte wie Wut und Liebe sind auch nicht schlecht. Komponisten sind wie alle Menschen durchlässige Gefäße, mit dem Unterschied, dass wir aus allen Einflüssen mit unseren Vorlieben, unserer Sensibilität, unseren Fertigkeiten und musikalischen Begabungen ungehörte Musik destillieren und erfinden.
Ist Ihre innerliche Vorstellung von einem Werk schon ausgeprägt, ehe Sie sich daran machen, es zu komponieren?
Nein. Ich weiß zwar, wohin ich möchte, dennoch entwickelt sie sich nach und nach während des Schreibens. Ich gehe dabei induktiv vor. Jede Entscheidung hat Konsequenzen, jeder eingeführte musikalische Kleinstbaustein tritt mit bereits vorhandenen in mannigfaltige Beziehungen. Mein großer Lehrmeister ist hier Morton Feldman – vor allem der Morty der mittleren Schaffensperiode. Nach einiger Zeit, nach der Hälfte des Arbeitsprozesses etwa, beginne ich dann mit der Reinschrift des Beginns, wo ich alle Entscheidungen noch einmal prüfe, nachbessere, präzisiere. Zu diesem Zeitpunkt habe ich eine mikroskopisch genaue Vorstellung über das gesamte Werk, weiß, wie es weitergeht und endet.
Wie würden Sie den Klang unserer Zeit beschreiben?
Ein mikrotonaler, wellenhaft glissandierender Tremolo-Cluster mit sägezahngefilterter hochalterierter Sept und geräuschhaft tiefalterierter Prim.
Was braucht zeitgenössische Musik, um die Liebe des Publikums zu gewinnen?
Offene Ohren und den Abbau der Schwellenangst. Großartige Interpret:innen hat sie bereits.
Was möchten Sie dem Publikum über Ihr Werk mit auf den Weg ins Konzert geben?
Ich zitiere aus meiner Werkeinführung: Kunst ist mächtig. Musik, da sie so abstrakt ist, ganz besonders. Sie kann im Unterschied zum vergifteten politischen Diskurs unserer Tage in Schattierungen operieren, vermag das Uneindeutige, das Fragile, das Flüchtige zum Thema zu machen. Sie kann poetisch, dramatisch und verspielt, wild, gespenstisch und zärtlich gleichzeitig sein. Sie hat keine Lobbyinteressen, ist deshalb auch nicht instrumentalisierbar, korrumpierbar und kann die Realität – durchaus auch als Vorbild für Politik und Gesellschaft – so zeigen, wie sie wirklich ist: vibrierend, oszillierend, flackernd, zitternd, bebend. Irisierend und vielgestaltig in der Fülle der möglichen Bedeutungsräume … die Liste der Synonyme ist beinahe unbegrenzt.
William Carlos Williams (1883–1963), der große Fixstern der Amerikanischen Moderne, der Magier der ›Jittering Directions‹, ist hierfür das Vorbild schlechthin. Aus dessen wunderbar zeitlosem Gedicht »April« (aus der Sammlung »Della Primavera Trasportata al Morale«) von 1930 habe ich den Titel für meine »Musik für Percussion und Orchester« entnommen.
Der Solist interagiert in meinem Werk mit dem Orchester stets auf Augenhöhe. Sie sind gleichberechtigt, inspirieren und ergänzen sich gegenseitig, treten in Diskurs. Sie ziehen bisweilen am gleichen Strang, um dann wieder unterschiedliche musikalische Bedeutungsräume individuell auszuleuchten. Die Balance zwischen Erwartbarkeit und Überraschung, zwischen Spielwitz und musikalischer Substanz ist genau kalibriert.

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Aus William Carlos Williams' »Della Primavera Trasportata al Morale«
—the complexion of the impossible
(you’ll say)
never realized—
At a desk in a hotel in front of a
machine a year
later—for a day or two—
(Quite so—)
Whereas the reality trembles
frankly
in that though it was like this
in part
it was deformed
even when at its utmost to
touch—as it did
and fill and give and take
—a kind
of rough drawing of flowers
and April
- Elbphilharmonie Großer Saal
SWR Symphonieorchester / Florian Hölscher / Christoph Sietzen / Emilio Pomàrico
Visions 2: Alberto Posadas / Johannes Maria Staud
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