Text: Helmut Mauró, April 2025
Munter zirpen die Flöten, die Geigen wuseln wie verrückt, und auf einmal fahren die Trompeten dazwischen. Spätestens dann ist man mittendrin in dieser Aufführung der Zweiten Sinfonie des romantischen Klassikers Johannes Brahms, die dem Orchester viel an Klangkraft und Präzision abverlangt, und die vom Dirigenten fordert, in jeder Sekunde den Gesamtüberblick zu wahren, um die hochmotivierten Musiker:innen sicher durch die gewaltige Partitur zu führen. Und man hört bald, dass dieser Dirigent mit diesem Orchester nicht nur vertrauter, sondern auch in der hintergründigen Verständigung intimer ist als selbst mit den vielen Weltklasseorchestern, die er sonst noch dirigiert. Iván Fischer und das Budapest Festival Orchestra – das ist eine Verbindung fürs Leben. Für ein besonderes musikalisches Leben, in dem es viele Höhepunkte und glamouröse Aufführungen gibt.
Und die beginnen ja schon lange vor der eigentlichen Aufführung mit vielen Proben, in denen Iván Fischer vor allem eines erreichen will: »Dass das Orchester kreativ spielt und mit einem tiefen Verständnis vom Inhalt des Stückes.« Das ist ihm wichtiger als alle Perfektion. »Perfektion ist kein Ziel«, sagte er einmal in einem Interview. Das sei fast eine Grundsatzfrage: Dass man mehr auf die Harmonien hört und weniger fixiert ist auf das, was genau in den Noten steht. Das sind schon gewagte Sätze, die man nur zu Musiker:innen sagt, von denen man Perfektion ohnehin gewohnt ist.
Perfektion ist kein Ziel
Immer sucht Fischer die Dramatik in der Musik, die sich bei ihm, in seinen ausgreifenden Gesten, im nur leicht angespannten Gesichtsausdruck ausdrückt und den Musikern vermittelt – stärker noch, als dies seine anschaulichen Erklärungen und Metaphern vermögen. In Beethovens Fünfter etwa will er das ganze Leiden und den hysterischen Jubel der französischen Revolution hören, kein Ton soll einfach so dahingespielt werden, alles und jeder ist eingebunden in das Gesamtdrama beethovenscher Sinfonik.
Altbekanntes in gewohntem Klang neu hören
Und selbst wenn in Fischers Kopf vielleicht mehr passiert, als später von der Bühne herunterklingt, kommt doch noch genug beim Publikum an, um es immer wieder staunen zu lassen, wie aufregend wohlbekannte Klassiker klingen können, auch wenn sie in vordergründig konventioneller Klanggestalt daherkommen. Iván Fischer ist kein Revolutionär, er sucht nicht nach nie gehörten Klängen, dreht Beethoven nicht auf links und Mozart schon gar nicht, sondern er wühlt sich in die Tiefe, ins schier Unergründliche, ins schaurig Fremde auch. Das Altbekannte in gewohntem Klang neu zu hören, das ist hierbei die Herausforderung und der Gewinn für das Publikum.
Das gelingt auf oftmals recht unterschiedliche Weise, denn jedes Orchester hat seine eigenen Traditionen, was musikalisches Verständnis und klangliche Umsetzung betrifft. Und als Gastdirigent hat man in der Regel weniger Probenzeit als mit dem eigenen Orchester, obwohl man doch mehr bräuchte. Fischer dirigierte unter anderem das New York Philharmonic, die Münchner Philharmoniker, das Cleveland Orchestra, das Orchestre de Paris, die Berliner Philharmoniker, das Israel Philharmonic Orchestra, das Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam, dessen Ehrengastdirigent er seit 2021 ist, aber auch, aus ganz anderer, historischer Klangperspektive, das Orchestra of the Age of Enlightenment. Schließlich hatte Fischer einst zwei Semester lang dem Alte-Musik-Meister Nikolaus Harnoncourt am Salzburger Mozarteum assistiert.
»Für einen Höhenflug braucht man mehr«
Aber inwieweit kann man ein fremdes Orchester in der gegebenen Probenzeit überhaupt auf die eigenen musikalischen Vorstellungen einschwören? Das gehe nur begrenzt, sagt Fischer. »Es kann sehr schön sein, aber für einen Höhenflug braucht man mehr. Darum habe ich ein neues Orchester gegründet.« Und dann ergänzt er überraschend: »Das hat nichts mit Probenzeit zu tun. Visionäre Dirigenten wie Celibidache haben viel Probenzeit gebraucht, weil sie ein tieferes Verständnis bei den Musikern erreichen wollten. Ich schätze das sehr, aber meine Arbeitsmethode ist grundsätzlich anders. Ich erkläre viel weniger, sondern versuche, eine Atmosphäre entstehen zu lassen, wobei die Orchestermusiker:innen mit dem Dirigenten so arbeiten sollen wie Schauspieler:innen mit einem Regisseur: mitdenkend, kreativ, risikofreudig.«
Relativ früh gelangte Fischer zu der Überzeugung, dass ein optimales Ergebnis nur mit einem festen Ensemble zu erreichen sei. »Als erfolgreicher junger Dirigent vermisste ich das kreative Musizieren bei den konventionellen Orchestern«, sagt er. »Ich fand, dass man in der Kammermusik frei, engagiert, kommunikativ spielte, und dagegen die Orchestermusik mechanisch, seelenlos, oft langweilig war. Das wollte ich ändern, ein Reformorchester entstehen lassen, in dem man wie in einem Streichquartett spielt. Dazu musste ich eine andere Struktur, andere Regeln, andere Arbeitsmethoden anwenden.« So entstand das Budapest Festival Orchestra (BFO).

»Ich wollte ein Orchester entstehen lassen, das wie ein Streichquartett spielt.«
Im Hintergrund glänzen :Iván Fischer sieht sich selbst als Übersetzer
Das war 1983, mit im Boot war der Pianist Zoltán Kocsis, der 2016 starb und von dem Fischer sagt: »Er war ein genialer Pianist, und er war jahrelang der einzige Solist, mit dem das BFO gespielt hat. Zoltán hat die Leute inspiriert und einen hohen Maßstab als Beispiel gesetzt.« Die Leute, damit meint Fischer nicht nur die Musiker:innen, sondern auch das Publikum. Das sind oft die intensivsten Konzerterlebnisse, wenn ein komplettes Sinfonieorchester mit einem einzigen Solisten so innig verschmilzt, dass dieser sich frei und scheinbar völlig losgelöst entfalten kann. Hierfür braucht es einen eher bescheidenen Maestro am Pult, der hinter dem aufgeklappten Flügel unsichtbar die Fäden zieht und den dramatischen Spannungsbogen hält, während vorne der Solist virtuos funkelt. Auch dies beherrscht Iván Fischer: im Hintergrund glänzen.
Da ist er ganz und gar Tradition: Die Musik gehört in den Mittelpunkt, nicht unbedingt der Musiker. Das spiegelt auch ein wenig die Schule, aus der Fischer, 1951 in Budapest geboren, kommt. Studiert hat er beim wohl erfolgreichsten Dirigenten-Macher, bei Hans Swarowsky in Wien. Unter dessen Studenten finden sich neben Iván und seinem Bruder Ádám Fischer auch Claudio Abbado, Zubin Mehta, Mariss Jansons, Dmitri Kitajenko, Giuseppe Sinopoli und weitere spätere Berühmtheiten. Was war das Besondere an Swarowsky? »Wenn man wollte, konnte man viel bei ihm lernen, vor allem, wie man die klassischen Sinfonien von Haydn bis Bruckner analysiert und versteht. Werktreue, die Wahrung der Gestalt und kulturelle Bildung waren ihm wichtig. Mit Interpretation oder Dirigierkunst hat er sich überhaupt nicht beschäftigt.«
Dabei war Swarowsky durchaus ein Mann der Praxis, hatte an den großen deutschsprachigen Opernhäusern dirigiert. Andererseits prägte ihn auch das intensive Detailstudium – da mag Arnold Schönberg, einer seiner Lehrer, durchaus Vorbild gewesen sein. Ein bisschen klingt dieses Denken auch noch bei Iván Fischer durch, wenn er erklärt, worauf es ihm beim Beruf des Dirigenten ankommt. Von Swarowsky habe er vor allem »Ehrlichkeit und eine moralische Haltung« gelernt, sagt Fischer. »Viele junge Leute möchten dirigieren, weil sie die Dirigentenrolle attraktiv finden. Das hat er verachtet und uns beigebracht, dass wir nur den Komponist:innen dienen, als wären wir Übersetzer:innen. Es geht nicht um euch, sagte er oft.«
»Harnoncourt hat mir die Augen geöffnet«
Als eine Art Gegengewicht erwies sich Nikolaus Harnoncourt. »Ein ganz anderer Denker-Typ«, sagt Fischer. »Er hat Swarowsky für mich ergänzt. Swarowsky lehrte, dass nur die Noten wichtig sind, Harnoncourt zeigte, dass das Essenzielle zwischen den Noten verborgen ist. Für Harnoncourt war Musik eine Kommunikation, wie die Sprache. Das hat mir die Augen geöffnet.« Wie sehr, das zeigte sich aber erst in der eigenen Arbeit als Dirigent, zumal mit unterschiedlichen Klangkörpern und auch in unterschiedlichen Genres. Nicht nur im Sinfonischen, auch in der Oper ist Fischer zu Hause. 1989 bis 1991 debütierte er an der Wiener Staatsoper mit einem Mozart-Zyklus, von 2000 bis 2003 war er Chefdirigent der Opéra National de Lyon, er dirigierte Opern in London, Paris, Brüssel und Zürich.
Auch in der Elbphilharmonie war Fischer 2023 mit einer szenischen Opernaufführung zu Gast, mit Claude Debussys »Pelléas et Mélisande«.
Und er gründete ein eigenes Opernfestival, 2018 im italienischen Vicenza, im berühmten Teatro Olimpico des noch berühmteren Renaissance-Architekten Andrea Palladio. »Es ist in perfektem Zustand«, staunt Fischer. »Damals, am Ende des 16. Jahrhunderts, ist die Oper entstanden. Hier wollte ich ein Opernfestival gründen, um mich wieder mit der Frage auseinanderzusetzen: Wie sollten Musik, Theater, Schauspiel, Tanz, überhaupt das Visuelle und das Akustische in der Kunst aufeinander wirken?« Fischers Festival bietet eine einzige Opernproduktion jedes Jahr, wobei der Dirigent auch die Regie führt – und auch die muss man sich eher historisch-traditionell vorstellen. Da ist Fischer recht rigoros: »Das übliche Regietheater in der Oper interessiert mich nicht,« sagt er. »Ich finde es unlogisch, dass man visuell erneuert und akustisch immer dasselbe wiederholt. In Vicenza kann man eine neue Art Gesamtkunst erleben. Das ist unser Ziel, und es passt zum Gebäude, das vielleicht das schönste Theater der Welt ist.«
Es sind diese leichtfüßigen Superlative, die Fischer nicht oft, aber hin und wieder von den Lippen gehen. Es ist eine eher gediegene Euphorie, eine kultivierte Leidenschaft, die innen heißer glüht, als von außen zunächst zu spüren ist. Was nicht heißt, dass er in den Konzerten und Orchesterproben immer an sich hielte. Er liebt anschauliche Beispiele und auch das körperliche Gestendrama des motivierenden Dirigierens, des Führens und des Anschubsens. Das wirkt bei jedem Orchester etwas anders. Wie sehr hat sich seine Erfahrung mit den großen Orchestern rückgespiegelt auf die Arbeit mit dem Budapester Festivalorchester? »Es war eher umgekehrt«, sagt Fischer. »Wir wollten alles anders machen. Von Solist:innen und von Kammermusiker:innen haben wir viel gelernt. Die ersten Gäste, die mir geholfen haben, waren Sándor Végh und Yehudi Menuhin. Andere Orchester haben eher mit Interesse unsere Neuerungen verfolgt.«
»Ich will nicht auf einer Insel leben«
Deshalb kann Fischer auch nicht sagen, welches der großen internationalen Orchester seinen musikalischen Vorstellungen am nächsten kommt, welchem er sich besonders verbunden fühlt. Denn da gibt es nur eine Antwort: das Budapest Festival Orchestra. »Das musikalische Resultat, das ich mit diesem Ensemble erreiche, ist weitaus besser als das bei berühmten internationalen Orchestern. Aber ich will nicht auf einer Insel leben und brauche auch Selbst-Reflexion. Ich frage mich immer bei anderen Orchestern, habe ich Recht, irre ich mich vielleicht, haben die konventionellen Orchester doch auch Vorteile? Und manchmal finde ich welche, darum arbeite ich gerne zum Beispiel mit dem Concertgebouw Orchestra in Amsterdam oder mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in München. Die finde ich jetzt die besten. Aber die Freiheit und Kreativität des Budapest Festival Orchestra sind einmalig.« Natürlich war dieses Resümee des Orchestergründers zu erwarten, aber darüber muss natürlich an jedem Konzertabend neu entschieden werden. Iván Fischer fürchtet das Praxisurteil nicht.
Was bleibt ihm am Ende, was ist der Kern seiner musikalischen Arbeit, seines Wünschens und Wirkens? »Als 31-Jähriger hatte ich die Ambition, dass ich das Phänomen Sinfonieorchester retten muss«, erklärt Fischer beinahe entschuldigend. »Später fühlte ich etwas Ähnliches in der Oper. Wenn man jung ist, möchte man die Welt verändern. Jetzt bin ich zufrieden, dass einige meiner Reformen erfolgreich waren, dass wir eine Alternative aufgezeigt haben, die hie und da als Zukunftsmodell studiert wird.«
Was keine schlechte Bilanz ist. Dennoch bleiben Erwartungen und Hoffnungen: »Jetzt wünsche ich mir nur, dass die nächste Generation, die es in der Zeit von Algorithmen, Populisten und künstlicher Intelligenz viel schwerer hat, ihre Kreativität in der Musik entfalten kann. Ich hoffe, dass die jungen Leute diese wunderbare Kunst, die Musik, mit neuen Ideen, mit Bedeutung und mit menschlicher Intelligenz immer wieder beleben und damit die Menschen beglücken werden.« Das klingt nicht nur freudig-zuversichtlich, da schwingt auch ein bisschen Wehmut mit, etwas Beschwörendes in Zeiten rigorosen und oftmals recht unbedachten Zusammensparens der Kulturhaushalte.
Dieser Artikel erschien im Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 2/25).
- Elbphilharmonie Großer Saal
Budapest Festival Orchestra / Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor / Iván Fischer
Mahler: Sinfonie Nr. 2 – mit Christiane Karg und Anna Lucia Richter / Internationales Musikfest Hamburg