Matthias Goerne

Interview mit Matthias Goerne

Der Bariton Matthias Goerne über die anhaltende Aktualität von Alban Bergs »Wozzeck« und die Zukunft der Klassik.

Interview: Bjørn Woll, erschienen im April 2025

 

Zu Hause ist Matthias Goerne vor allem im Kunstlied. Hier zählt er zu den Besten, fesselt mit raffinierter Gestaltung und ­feinsten Aus­drucksnuancen seiner tiefschürfenden Interpretationen. Auf der Opernbühne ist er hingegen deutlich seltener zu erleben, ist wählerisch bei der Auswahl der Partien, die ihn reizen. Zu einer aber kehrt er seit den Anfängen seiner Laufbahn immer wieder zurück: zu Alban Bergs »Wozzeck«. Gleich sein erster »Wozzeck«-Dirigent, Christoph von Dohnányi, war eine prägende Erfahrung, weil ­»er so transparent dirigiert hat und den Notentext so wahnsinnig genau lesen konnte«. Ende zwanzig war Goerne bei dieser Zürcher Produktion, in der Peter Mussbach Regie führte. Es folgten scho bald Produktionen unter anderem in London, Wien, Salzburg und New York. 

Nun, mit Ende 50, fügt Goerne seinem »Wozzeck«-Panorama eine neue Facette hinzu. Am 23. und 25. Mai 2025 dirigiert Alan Gilbert die Produktion beim Internationalen Musikfest Hamburg 2025; Romain Gilbert besorgt die szenische Einrichtung für den Großen Saal der Elbphilharmonie.

Matthias Goerne
Matthias Goerne © Marie Staggat

»Die Oper ist keine Massenware« :Interview mit Matthias Goerne

Der »Wozzeck« ist so etwas wie Ihre Paraderolle, wie kam’s?

Es ist ähnlich wie bei allen zeitlosen Stücken, wie zum Beispiel auch bei der »Winterreise«, dass man nie an den Punkt gelangt, wo man sagt: Ich habe alles darin entdeckt. Der »Wozzeck« ist im musikalischen Gestus so eindeutig, konkret und präzise von Berg kom­poniert, und trotzdem ist das immer noch ein schwieriges Stück, obwohl es über hundert Jahre alt ist. Den Notentext zu hundert Prozent richtig zu erschließen, ist fast unmöglich. Die Intellektualität und in der Intellektualität die präzise Notation von Emotionen – das ist eine wirkliche Herausforderung.

Was reizt Sie an der Figur des Wozzeck, an der ­Geschichte der Oper?

Ich kenne keine andere Oper, die einen so einfachen, verständlichen und trotzdem dem Menschen so nahen, komplexen Plot hat wie diese. Viele assoziieren mit »Wozzeck« die unterdrückte Seele und den geschundenen Menschen, der aufgrund verschiedener Zwänge und Erlebnisse zwangsläufig seine Geliebte umbringt. Ich denke das nicht. Für mich ist es vor allem eine Geschichte, in der ein Mann eine Frau aus Eifersucht tötet. Das ist zumindest die eine Geschichte.

Matthias Goerne singt »Dort links geht's in die Stadt... Du sollst da bleiben, Marie« (Wozzeck / 3. Akt)

Und was ist die andere?

Auf der anderen Seite zeigt das Stück eine Gesellschaft, in der Menschen aufgrund ihrer Stellung schlecht behandelt werden und schlecht behandelt werden dürfen. Und das ist dem Menschen immer noch nahe: Jeden Tag versucht in Deutschland jemand, eine Frau umzubringen. Und jeden dritten Tag schafft der Mann, Freund oder Ex-Partner das auch. Dass Menschen sich aus Streit und Eifersucht töten, gab es immer schon, und vermutlich wird es das auch immer geben. Letzten Endes sind die Zwänge, unter denen Wozzeck leidet, also vergleichbar mit denen von heute. Es ist offensichtlich, dass er aufgrund der gesamten gesellschaftlichen Situation dieses von Un­gerechtigkeit geprägte Leben führt. Und trotzdem ist in der Oper ganz klar: Es ist ein Mord aus Leidenschaft und aus Eifersucht. Diese Verquickung macht das Stück bis heute so aktuell.

Was ist der Wozzeck in Ihrer Interpretation für ein Typ, was möchten Sie dem Publikum in dieser Figur zeigen?

Bergs geniale Dramaturgie, wie er Büchners Texte aufeinander folgen lässt, zeigt den Menschen als armes Schwein, das malochen muss und schlecht behandelt wird. Es zeigt den Menschen, der sich seinen Fantasien und auch seinem Wahn ausgesetzt fühlt, sobald er mal in Ruhe gelassen wird oder mit Menschen zu tun hat, denen er ver­traut. Sonst wird er ja immerzu gemaßregelt und kontrolliert. Und dann ist es natürlich der Mann, der versucht, geliebt zu werden oder Liebe zu geben. Aber obwohl dieses Bedürfnis so groß ist, kann er beides nur schwer ertragen bzw. zulassen, weil das Verhältnis zu Marie durch die äu­ßeren Zwänge bereits so zerrüttet ist.

Finden Sie in all dem Zynismus und der Brutalität denn auch Momente der Hoffnung?

Zumindest die Sehnsucht, denn alles menschlich Tragische ist gleichzeitig mit der Sehnsucht nach Besserung verbunden. Ich kann mir zum Beispiel nicht vorstellen, dass jemand mit einem Mord einfach so leben kann, ganz ohne Gewissensbisse. Es sei denn, er ist wirklich ein Psychopath. Aber selbst ein Mörder hat das Recht, als Mensch behandelt zu werden. Das ist der erste Ansatz, diese Art von Vergebung: Das Gesetz sagt, eine schreck­liche Tat muss bestraft werden, aber dann hat derjenige durch die Strafe eine neue Chance verdient. Das ist hart, vor allem für Betroffene. Aber für eine Gesellschaft ist es zwingend notwendig. Der Mord ist das eine, ganz große Schlimme, aber es gilt ja auch im Kleineren: dass man etwas tut, dabei erwischt und bestraft wird – und es dann irgendwann auch ein Ende geben muss. Auch im Privaten ist es so, da entschuldigt man sich – und wenn die Entschuldigung angenommen wird, muss es zur Vergebung führen.

Matthias Goerne Matthias Goerne © Marie Staggat / Deutsche Grammophon

»Es geht nicht um Rache, sondern darum, dass der Versuch von Vergebung die Grundvoraussetzung dafür ist, dass es besser wird.«

Wie begeistert man ein Publikum, das an den Realismus im Kino gewöhnt ist, für Opern-Geschichten? Zum Beispiel der »Lohengrin«, der zum ersten Mal auf Elsa trifft und nach gefühlt zwanzig Sekunden schon singt: »Elsa, ich liebe Dich!«

Die Schwierigkeit liegt nicht in diesen ersten zwei Minuten, sondern darin, sie plausibel zu machen für die nächsten vier Stunden. Das Problem ist also nicht, dass er das am Anfang so schnell sagt, es muss einem aber danach etwas einfallen: Dass man diesen Satz in Erinnerung be­hält und die Geschichte irgendwie vom Ende her denkt. Auch das ist eine Herausforderung, dass das Interesse an klassischer Musik ganz offensichtlich massiv zurückgeht, vor allem dort, wo ein Überangebot besteht. Ich spreche jetzt nicht von den Berliner oder Wiener Philharmonikern, den Orchestern in Amsterdam, New York oder Chicago. Ich rede von denen, die danach kommen, von Institutionen und Orchestern, die sehr gut sind, die aber alle Besucherprobleme haben.

Könnte es für ein modernes, heutiges Publikum nicht gerade reizvoll an der Oper sein, dass sie eben ein bisschen pathetisch ist, dass sie das Gefühl zulässt in einer Welt, die Pathos und offene Emotionen eher scheut? Die Oper sozusagen als Sehnsuchtsort?

Das Problem ist ja nicht, dass die Leute die Oper nicht annehmen, wenn sie drin sitzen. Die Menschen reinzubekommen, dieser Schritt ist schwierig. Wir haben ein sehr gutes Niveau, nicht nur bei den Berliner Philharmonikern, auch bei den Nürnberger Symphonikern oder der ­Zwi­ckauer Philharmonie. Dort kann man wirklich gute Konzerterfahrungen machen. Das ist vielleicht auch Teil des Problems, dass die Musikwelt sich immer am Besten und den absoluten Eliten orientiert. Dann stirbt aber das Mittelfeld. Und Eliten sind nur möglich, weil wir ein Mittelfeld haben. Das gilt auch für die musikalische Sozia­lisation: Gibt es keine frühkindliche Musikerziehung, finden wir das begabte Kind nicht, und das Kind findet auch nicht heraus, dass es eigentlich diese Begabung hat. 

Konzert- und Opernhäuser sollten aber nicht nur pädagogische Anstalten sein, um zu kom­pensieren, was gesamt­gesellschaftlich im Fundament nicht mehr existiert. Denn der Anspruch an die Qualität und daran, das Beste aus sich herauszuholen, darf nicht verlorengehen. Das muss das Ziel sein, und nicht zu über­legen, wie man das Publikum am einfachsten verführen kann. Die Oper ist keine Massenware: Es gibt Stücke, die sind genial, aber viel zu intellektuell. Für die interessiert sich nur ein bestimmter Teil der Gesellschaft, für diesen Teil sind sie aber ganz wichtig. Genau so komplementiert sich eine Gesellschaft und beginnt zu funktionieren.

Wie blicken Sie denn in die Zukunft der Oper, dieser ganz speziellen Gattung: mit Zuversicht oder eher mit bangem Blick?

Generell mit Zuversicht. Auch wenn es skandalös ist, was da gerade zum Beispiel in der Berliner Kulturpolitik läuft. Es ist eine Katastrophe, wenn die Komische Oper wegen zehn Millionen Euro in Bedrängnis gerät, der Staat aber gleichzeitig mit viel höheren Summen Firmen unterstützt, die dann pleitegehen, auf Kosten der Steuerzahler. Aber trotz aller Schwierigkeiten ist der Zusam­menhalt in der Kultur doch relativ stark. Ich bin überzeugt davon, dass die guten Stücke, die guten Häuser und die Leute, die mit einer guten Haltung und mit einer starken Überzeugung arbeiten, auch in Zukunft zu einer positiven Entwicklung beitragen werden.

 

Dieses Interview erschien im Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 2/25).

Matthias Goerne singt Brahms

»Lieder, die mich packen« – Matthias Goerne singt eine Auswahl von Brahms-Liedern in der Elbphilharmonie.

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