Interview: Bjørn Woll, 1. August 2024
Antoine Tamestit, Sohn des Geigenpädagogen und Komponisten Gérard Tamestit, trat zunächst in die Fußstapfen seines Vaters, ließ die Violine aber schnell links liegen – zugunsten der Viola. Später studierte er in Yale bei Jesse Levine, danach in Berlin bei Tabea Zimmermann, der vielleicht größten Bratschistin unserer Zeit. Doch längst gehört der 1979 in Paris geborene Musiker selbst zur Weltklasse auf seinem Instrument.
Als Solist gastiert er auf nahezu allen wichtigen Bühnen dieser Welt, und das mit einem enorm breiten Repertoire, das vom Barock bis zu Zeitgenössischem reicht. Immer mit dabei: die älteste erhaltene Bratsche von Antonio Stradivari aus dem Jahr 1672, die ihm von einer Stiftung zur Verfügung gestellt wird. Regelmäßig schreiben wichtige Komponist:innen neue Werke eigens für ihn, darunter Olga Neuwirth, Bruno Mantovani und Jörg Widmann. Hinzu kommt ein ausgeprägtes Faible für Kammermusik, gerne im Verbund mit langjährigen Vertrauten, zu denen Isabelle Faust, Yo-Yo Ma, das Quatuor Ébène und Jean-Guihen Queyras zählen; mit Frank Peter Zimmermann und Christian Poltéra gründete Tamestit außerdem das Trio Zimmermann. Daneben war er zehn Jahre lang Programmdirektor des Viola Space Festivals in Japan und unterrichtete als Professor an der Musikhochschule in Köln und am Pariser Konservatorium.
Residenzkünstler in der Elbphilharmonie 2024/25
Als Residenzkünstler beim NDR Elbphilharmonie Orchester gibt Antoine Tamestit in der Spielzeit 2024/25 gleich mehrfach Einblicke in seine faszinierend-facettenreiche Künstlertätigkeit – ob solistisch mit großem Orchester oder kammermusikalisch mit hochkarätigen Partner:innen.

Antoine Tamestit im Interview
Die Bratsche wird oft als vernachlässigtes Soloinstrument bezeichnet. Aber stimmt das überhaupt noch? Immerhin gibt es längst prominente Künstler wie Tabea Zimmermann, Kim Kashkashian, Nils Mönkemeyer, Maxim Rysanov und natürlich Sie. Wie viel müssen Sie für das Image der Bratsche denn noch tun?
Vielleicht hatte ich Glück, aber ich spüre an meinem Instrument keine Benachteiligung mehr. Ich bin jetzt Mitte 40 und habe musikalisch schon mehr erreicht, als ich mir jemals erträumt hätte. Sowohl die großen Orchester als auch prominente Dirigenten sind daran interessiert, mit mir als Bratschist zu arbeiten. Das zeigt das konstante Interesse an diesem Instrument. Das haben wir den Namen zu verdanken, die Sie gerade genannt haben, denn sie haben den Weg geebnet, haben für das Ansehen der Bratsche gekämpft, neue Werke in Auftrag gegeben und damit das Repertoire erweitert.
Was mögen Sie selbst am meisten an der Bratsche?
Als Kind habe ich ein paar Jahre lang Geige gespielt, wollte dann aber Cello lernen, nachdem ich mich in Bachs Cellosuiten verliebt habe. Weil ich aber schon einige Kenntnisse auf der Geige hatte, wechselte ich doch zur Bratsche. Für mich war das die natürliche Erweiterung der Violine zu einer tieferen, wärmeren, dunkleren Persönlichkeit.
Die Grenzen des Repertoires lernte ich erst später kennen: die Tatsache zum Beispiel, dass eines der besten Stücke, Mozarts »Sinfonia concertante«, kein reines Bratschenkonzert ist, sondern eines für Violine und Viola. Oder »Harold en Italie« von Berlioz, das kein Solokonzert ist, sondern eine Sinfonie, in der die Solobratsche immerhin eine wichtige Rolle spielt. Oder Hindemith, der das Instrument zwar meisterhaft beherrschte, in seinem Konzert aber eine »unvollständige« Orchesterbesetzung vorsieht, weil er die Geigen und Bratschen aus dem Orchester rausnimmt.
Antoine Tamestit und das hr-Sinfonieorchester mit Berlioz’ »Harold en Italie«
Das klingt schon ein bisschen frustrierend, oder?
Überhaupt nicht, zumindest nicht für mich. Die Bratsche kann ein Soloinstrument sein, wenn auch auf ihre eigene Art. Zu ihrer Persönlichkeit gehört es aber ebenso, dass sie im Quartett oder im Orchester meist nicht die führende, sondern eine unterstützende Stimme spielt, sozusagen den Kern in der Mitte zwischen Bass und Melodie. Oder wie Bach sagte, das Zentrum der Harmonie. Rund drei Viertel meiner Auftritte im Jahr sind mit Orchester. Aber selbst da geht es nicht nur darum, vorne an der Rampe zu stehen und möglichst viel Virtuosität zu demonstrieren. Man muss auch wissen, wie man Teil des Orchesters werden kann, dass man als Solist auch Kammermusiker sein muss, dass man manchmal auch im Schatten steht. Oder dass man als eine Art großer Bruder agiert, wie in Mozarts »Sinfonia concertante«. Das ist die Persönlichkeit der Bratsche: nicht immer nur glänzen zu wollen, sondern auch mal die Nebenrolle zu spielen. Oder wie es bei der Oscar-Verleihung immer heißt: »Best Supporting Actor«.
Finden Sie etwas von diesem Charakter der Bratsche auch in Ihrer eigenen Persönlichkeit?
Was ich da schon sehe, ist der Humor, die Fähigkeit, über sich selbst Witze zu machen und sich selbst nicht ganz so wichtig zu nehmen: diese Art von Demut, dass man eigentlich ein besserer Mensch ist, wenn man jemand anderen begleitet. Als Menschen brauchen wir die Interaktion, um existieren zu können. Das ist eine Seite meiner Persönlichkeit, die der Bratsche sehr nahe steht, denn ich liebe die Interaktion mit anderen. Das beschreibt Jörg Widmann sehr schön in seinem Violakonzert, das er für mich geschrieben hat, und in dem ich durch das Orchester wandere und in Dialog mit verschiedenen Instrumenten trete.

»Als Menschen brauchen wir die Interaktion, um existieren zu können. Eine Seite meiner, die der Bratsche sehr nahe steht.«
In Hamburg spielen Sie Bachs Brandenburgisches Konzert Nr. 6 mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester, vor ein paar Jahren haben Sie dieses Werk mit der Akademie für Alte Musik Berlin aufgenommen. Macht es für Sie einen Unterschied, ob Sie mit einem modernen oder einem historisch informierten Orchester spielen?
Ich hatte schon während des Studiums Unterricht bei einem Barockcellisten und habe mir damals meinen ersten Barockbogen gekauft. Und als ich vor über zehn Jahren Bachs Cellosuiten auf der Bratsche aufgenommen habe, habe ich Darmsaiten aufgezogen. Damit klang das Instrument ganz anders, viel wärmer und flexibler. Für mich haben Darmsaiten und Barockbögen etwas Aufregendes an sich, sie geben dem Klang eine besondere Farbe und einen hinreißenden Glanz. Ich bin aber auch davon überzeugt, dass es keine absolute Wahrheit gibt. Ich spiele ebenso gerne mit Originalklang-Ensembles wie mit modernen Orchestern – auch weil deren Musiker heute bestens mit den Erkenntnissen der historisch informierten Aufführungspraxis vertraut sind.
Im selben Konzert steht mit Paul Hindemith einer der wichtigsten Komponisten für Bratsche überhaupt auf dem Programm. Der ist ein seltsames Paradox: Sein Name ist zwar recht bekannt, aber seine Musik wird nicht gerade oft gespielt. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Nicht so richtig, aber es ist eine gute Frage. Vielleicht liegt es daran, dass er von den Nazis brutal ins Abseits gedrängt und seine Musik als entartete Kunst diffamiert wurde. Er verließ Deutschland, emigrierte in die Vereinigten Staaten, und seine Musik wurde kaum noch aufgeführt. Als er später zurückkam, war der Kontakt zum Publikum irgendwie abgerissen. Dabei ist er für die Bratsche immens wichtig, vergleichbar mit dem, was Paganini für die Geige oder Liszt und Chopin fürs Klavier getan haben: Es sind Wendepunkte, an denen plötzlich jemand die Möglichkeiten eines Instruments ausschöpft und damit die Technik auf eine neue Ebene katapultiert.
Was war Paul Hindemith für ein Typ?
Als ich an der Yale University studierte habe, bekam ich Bratschenunterricht in dem Raum, in dem auch Hindemith unterrichtet hat. Später zeigte mir meine Lehrerin Tabea Zimmermann Briefe von ihm. Ich kam dieser Persönlichkeit dadurch immer näher und lernte einen Menschen kennen, der Walt Disney liebte, der ein ganzes Zimmer voller Modelleisenbahnen zu Hause hatte und in surrealistischen Filmen mitspielte. Er hat sich offenbar einen kindlichen Geist bewahrt und besaß eine Menge Humor. Das müssen wir als Künstler bedenken, wenn wir seine Musik spielen. Außerdem war er ein Spezialist für Barockmusik, die ihm als Ideal galt. Deshalb spielen wir Hindemith im Konzert auch direkt nach Bach, denn seine Kammermusik Nr. 5 ist ein direkter Verweis auf Bachs Brandenburgisches Konzert Nr. 6.
Paul Hindemith: Kammermusik Nr. 5 für Viola und Orchester
Wie sieht es mit dem Repertoire in der zeitgenössischen Musik aus? Welche Möglichkeiten der Bratsche nutzen die Komponisten heute?
In der Entwicklung des Repertoires gibt es eine Verzögerung im Vergleich zur Geige und zum Klavier. Was Paganini für die Geige bereits Anfang des 19. Jahrhunderts angestoßen hat, passierte für die Bratsche erst ein Jahrhundert später mit Hindemith: Er sprengte die Fesseln des Instruments. Doch dann dauerte es eine Weile, bis das weitere Komponisten beeinflusst hat. 1929 schrieb William Walton sein Bratschenkonzert, 1945 hat auch Béla Bartók mit seinem Konzert die Möglichkeiten des Instruments weiterentwickelt, besonders den Tonumfang in der hohen Lage. Danach folgten Komponisten wie Bernd Alois Zimmermann, Alfred Schnittke, Sofia Gubaidulina, György Kurtág und György Ligeti. Auch die Konzerte und Stücke, die für Tabea Zimmermann geschrieben wurden, haben das Repertoire erweitert, denn mit ihrer so brillanten und flexiblen Technik hat sie den Tonschöpfern gezeigt, was auf der Bratsche alles möglich ist.
Apropos, von Sofia Gubaidulina spielen Sie im Rahmen der Residenz das Violakonzert. Was ist das für ein Stück?
Sie komponiert in einer ganz persönlichen musikalischen Sprache, die eine unglaubliche Spiritualität besitzt. Ähnlich wie der Maler Mark Rothko mit seinen Bildern Spiritualität ausdrückt, gelingt das Gubaidulina mit Tönen. Wenn die Streicher unisono spielen, ist das wie ein Gebet aus weiter Ferne. Außerdem nutzt sie den ganzen Tonumfang der Viola, schafft so einen weiten Raum – einen Bratschenkosmos, eine Art Universum, auf das wir blicken können. Es ist ein ganz und gar spezielles Konzert, in dem es auch um die Beziehung zwischen Orchester und Solist geht, das zeigt sich schon an den ungewöhnlich zahlreichen Solokadenzen. Ich hatte das Glück, einmal mit ihr arbeiten zu können. Und selbst wenn wir uns mit Sprache nicht richtig verständigen konnten, weil sie kaum Englisch spricht, war es beeindruckend, wenn sie mir zum Beispiel eine Stelle vorgesungen hat.
Mit einem reinen Schubert-Programm zeigen Sie in Hamburg auch Ihre Leidenschaft für die Kammermusik. Was reizt Sie daran so sehr?
Ich liebe Kammermusik, weil man in gewisser Weise Freundschaften schließt, ohne zu reden. Man kann sogar Freundschaft mit jemandem schließen, mit dem man im wirklichen Leben gar nicht befreundet ist. Es geht dabei um eine subtile Kommunikation und auch darum, Kompromisse zu finden: Man muss aufeinander zugehen, um sich zu verstehen. Meine Kammermusikpartner sind für mich aber immer auch Lehrer: Ich muss daran interessiert sein, was sie sagen oder was sie über ein Musikstück denken. Ich möchte herausgefordert werden. Es ist wie eine Liebesgeschichte, in der man aufeinander zugeht, in der man sich gegenseitig herausfordert, in der man sich anzieht. So entstehen auch für das Publikum besondere Momente.

»Ich liebe Kammermusik, weil man in gewisser Weise Freundschaften schließt, ohne zu reden.«
An einen dieser Momente erinnere ich mich sehr gut, da haben Sie Schönbergs Streichsextett »Verklärte Nacht« gespielt. Ich habe selten einen derart mucksmäuschenstillen und erwartungsvollen Saal gesehen. Wie erleben Sie solche Momente als Musiker auf der Bühne?
Ich bin kein besonders religiöser Mensch, zumindest glaube ich nicht an eine bestimmte Religion. Aber ich habe in den letzten Jahren festgestellt, dass es etwas gibt, das ich wirklich spirituell finde: den Raum zwischen dem Künstler und dem Publikum. Das, womit die Luft gefüllt ist, was die Stille erzeugt, was die Reaktion des Publikums hervorruft. Diese Fragen werden immer wichtiger für mich: Was ist es in unserem Timing, in unseren Farben, in unserem Ausdruck, was das Publikum dazu bringt, zu reagieren? Vielleicht sogar atemlos zu sein, sodass die Zeit für ein paar Minuten stillsteht. Das sind für mich die schönsten Momente als Musiker.
Die Gretchenfrage bei Streichern lautet oft: ein altes oder ein neues Instrument? Sie selbst spielen die Viola Stradivarius »Gustav Mahler« von 1672. Tabea Zimmermann hat mir einmal erzählt, dass die alten Bratschen oft einen dunklen Tenorklang hätten, etwas größer und unhandlicher seien und deshalb nicht ganz so beweglich, also weniger geeignet für solistische Aufgaben. Stimmen Sie zu?
Der einzige »Nachteil« meiner Stradivari-Viola ist der, dass sie relativ große »Schultern« hat. Da musste ich am Anfang ein bisschen ausprobieren, um eine gute Position zu finden. Außerdem kann man auf einem alten Instrument nicht unbedingt nur das machen, was man selbst möchte: weil es vorher schon von anderen gespielt wurde, die es geformt haben. Das Holz hat sich bewegt, der Lack hat sich verändert, ein spezifischer Klang hat sich entwickelt. Nach 16 Jahren mit »meinem« Instrument kann ich aber sagen, dass das eine besondere Qualität ist und keinesfalls ein Nachteil. Wenn ich auftrete, habe ich das Gefühl, dass zwei Personen auf die Bühne gehen: ich selbst und mein Instrument. Ich weiß, es klingt verrückt, aber manchmal scheint mir, dass meine Bratsche mir sagt: »Spiel mehr so, geh mehr in diese Richtung – und dann kriegen wir, was Du willst.« Noch heute werde ich regelmäßig überrascht, welche Farben und Resonanzen in ihr stecken.
Dieses Interview erschien im Elbphilharmonie Magazin (Ausgabe 3/24).
- Elbphilharmonie Großer Saal
NDR Elbphilharmonie Orchester / Antoine Tamestit / Pablo Heras-Casado
Gubaidulina: Violakonzert / Wagner: Götterdämmerung (Auszüge) – Internationales Musikfest Hamburg
Ausverkauft - Elbphilharmonie Großer Saal
NDR Elbphilharmonie Orchester / Antoine Tamestit / Pablo Heras-Casado
Gubaidulina: Violakonzert / Wagner: Götterdämmerung (Auszüge) – Internationales Musikfest Hamburg
- Elbphilharmonie Kleiner Saal
NDR Sonderkammerkonzert mit Antoine Tamestit
Werke von Fabien Waksman, J.S. Bach, Frank Bridge, George Benjamin u.a. – Internationales Musikfest Hamburg
- Elbphilharmonie Großer Saal
NDR Elbphilharmonie Orchester / James Ehnes / Antoine Tamestit / Louis Langrée
Ravel: Ma mère l’oye / Mozart: Sinfonia concertante / Saint-Saëns: Orgelsinfonie
Ausverkauft