Der österreichische Bassbariton Florian Boesch zählt zu den großen Liedinterpreten unserer Zeit – »eine Urgewalt, die auf der Bühne die Aufmerksamkeit auf sich zieht wie ein Schwarzes Loch« (Salzburger Nachrichten). Im Interview spricht er über seinen Akzent, über das Sprechen im Singen und den Reiz seiner Residenz an der Elbphilharmonie.
»Nirgendwo anders zu sein als hier und jetzt – darum geht’s im Liedgesang.« :Florian Boesch im Gespräch mit Bjørn Woll
Herr Boesch, sind Sie ein Frühaufsteher? In aller Regel schlagen Künstler für Interviews deutlich spätere Uhrzeiten vor, und gerade Sänger mögen oft gar nicht gerne morgens sprechen, so wie wir jetzt.
Ein für mich spannendes und hochaktuelles Thema, das auch mit der pandemiebedingten Unterbeschäftigung zusammenhängt: Eigentlich dachte ich, dass ich ein Nachtmensch bin, doch im letzten Jahr bin ich immer öfter mit der Sonne aufgestanden. Das habe ich sehr genossen, aber es ist mit meinem Beruf auf Dauer nicht vereinbar. Wenn ich wieder 70 bis 100 Abende im Jahr singe, wird sich das zwangsläufig wieder nach hinten verschieben. So langsam kommt da aber auch die senile Bettflucht hinzu: Ich bin im Mai (2021) 50 geworden, ich kann nicht mehr so lange schlafen, wie ich will. Ich bin also gerade dabei, mich zu einem Frühaufsteher zu entwickeln, was mich wegen meines Berufes noch ein paar Jahre problematisch begleiten wird.
Ich hatte schon ein bisschen Angst vor unserem Gespräch, weil Sie in einem Interview mal gesagt haben, dass Ihnen von Journalisten oft langweilige Fragen gestellt werden.
Ach ja, dieser Satz verfolgt mich. Aber ich sage Ihnen was: Es ist Ihre Lebenszeit, und es ist auch meine. Und wenn mir dann die immer gleichen Fragen gestellt werden, finde ich das nicht zielführend. Ich glaube, dass es der Sache guttut, wenn der Journalist einen halben Millimeter aus seiner Routine ausbricht und sagt: Vielleicht kann ich da noch eine Facette rauskitzeln, die etwas anderes beleuchtet. Jedenfalls hatte ich seitdem spannendere Interviews. (lacht)
Dann hoffe ich, dass Sie die nächste Frage auch spannend finden: Als Österreicher sprechen Sie einen Akzent, was Einfluss auf die Artikulation und Vokalfärbung hat. Ist das fürs Singen eher ein Vor- oder ein Nachteil?
Unbedingt ein Vorteil! Die individuelle Färbung der Sprache ist ein absoluter Mehrwert, weil sie an die Natürlichkeit des Sprechens andockt. Wenn ich einen Sänger in seiner Äußerung erlebe, der sich in eine Artikulation zwängt, die nichts mit der zu tun hat, in der er lebt und aufgewachsen ist, dann ist das für mich schon künstlich. Das heißt nun nicht, dass es sinnvoll wäre, wenn ich Goethe, Heine oder Eichendorff in meinem lokalen Akzent oder gar Dialekt sänge. Aber das Ahnen des Lokalkolorits, des Klangs, der Phonetik, der Vokalfärbung als notwendige oder zumindest mehrwertige Qualität einer Natürlichkeit des Singens, das ist eine Möglichkeit, die man – richtig dosiert – wunderbar verwenden kann.

»Wenn ich einen guten Liederabend singe, gehe ich von der Bühne und sage: Ich habe gesprochen.«
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Über Florian Boesch
Der Vater Christian war Opernsänger, die Großmutter Ruthilde Kammersängerin und erste Gesangslehrerin von Florian Boesch. Und dennoch war der österreichische Bassbariton ein echter Spätstarter und begann erst mit 27 Jahren sein Gesangsstudium. Als »Sänger auf dem vierten Bildungsweg« bezeichnet er sich selbst, nachdem er in Wien zuvor schon Design und Bildhauerei studiert hatte. Musikalisch beeinflusst wurde er vom Bassbariton Robert Holl, einem Schüler des legendären Hans Hotter, und, wichtiger noch, vom Dirigenten Nikolaus Harnoncourt: »14 Jahre, Hunderte Konzerte! Harnoncourt ist die musikalisch prägendste Figur in meinem Leben.«
Auf der Opernbühne ist Boesch selten anzutreffen, und wenn doch einmal, dann am liebsten mit seinem bevorzugten Regisseur Claus Guth und am Theater an der Wien, das zu seinem Opernstammhaus geworden ist. Doch richtig zu Hause fühlt er sich auf den Liedpodien der wichtigen Konzerthäuser weltweit und der großen Festivals wie den Salzburger Festspielen. Dort ist er meist mit seinen Langzeitpartnern am Klavier, Malcolm Martineau und Roger Vignoles, zu erleben. Oder er inszeniert einen Liederabend gemeinsam mit dem Ensemble Franui als Maskenmusiktheater. Gerade dieser intensive Austausch mit Künstlerkollegen und -freunden spielt im Musikverständnis von Florian Boesch eine zentrale Rolle. Sein Wissen gibt er seit 2015 als Professor für Lied und Oratorium an der Wiener Musikuniversität auch an die jüngere Generation weiter.
Stichwort Natürlichkeit: Eigentlich ist der klassische Gesang doch so ziemlich die künstlichste Form, in der sich ein Mensch äußern kann. Gerade bei Liedsängern gibt es Vertreter wie Dietrich Fischer-Dieskau oder heute Christian Gerhaher, die eher das Artifizielle betonen; auf der anderen Seite gibt es Sänger wie Holger Falk oder Johannes Martin Kränzle, deren Vortrag eher ungekünstelt wirkt, die einen natürlichen Erzählfluss haben. Erleben Sie das auch so? Und wo sortieren Sie sich da ein?
Da bin ich ganz bei Ihnen, auch wie Sie die Namen gerade gereiht haben. Wenn ich mir diese beiden, sagen wir mal: Schulen anschaue, geht die eine zurück auf Fischer-Dieskau und die andere auf Hans Hotter. Mein Ideal des Singens ist ein natürliches Referieren oder noch einfacher gesagt: Ich spreche. Wenn ich einen guten Liederabend singe, gehe ich von der Bühne und sage: Ich habe gesprochen. Und zwar sowohl in der artikulatorischen Umsetzung als auch in der gesanglichen. Ich möchte im Gesang ein natürliches menschliches Bekennen entwickeln. Aber natürlich haben Sie recht, dass das Singen a priori die künstlichste Äußerungsform ist. Das hat aber auch einen entscheidenden Vorteil.
Nämlich?
Wegen der Künstlichkeit des klassischen Gesangs kommen wir Sänger niemals in den Problembereich der Echtheits-Prätention. Im Schauspiel sieht das ganz anders aus: Wenn auf der Bühne im Wiener Burgtheater geflüstert wird, ist das wirklich absurd, weil auf dieser riesigen Bühne laut und angestrengt geflüstert werden muss, damit das Publikum überhaupt noch etwas versteht. Da gibt es also eine Realitätsbehauptung, mit der die Disziplin immer im Clinch liegt. Im Gesang haben wir dieses Problem nicht, weil zum Beispiel unsere Artikulationshaltung per se eine künstliche ist. Damit heben wir das auf eine ganz andere Ebene, weil wir völlig neu und etwas anderes bauen können.
Wie erreichen Sie als Sänger trotzdem Natürlichkeit im Vortrag, wenn es die doch eigentlich gar nicht geben kann?
Es gibt einen Satz von Heinrich Heine, der aus »Es leuchtet meine Liebe« stammt, ein Gedicht, das Schumann vertont hat. Dort heißt es: »Wenn ich begraben werde, dann ist das Märchen aus.« – Ich habe nichts zu erzählen in der Welt, außer das Einzige, auf das ich Zugriff habe – und das bin ich selbst. Ich kann nur von mir erzählen. Deshalb ist mein Erzählen immer auch ein Bekennen: Ich bin beruflich ein Bekenner – und halte dieses Berufsverständnis auch für entscheidend verlinkt mit der Bedeutung meines Tuns für die Gesellschaft und das Publikum. Ich gehe auf die Bühne, um mich zu bekennen in meiner Menschlichkeit und einem Publikum zu sagen: Zumindest für einen Moment lang seid ihr nicht alleine mit eurem Menschsein, auch wenn ihr euch nicht bekennen könnt, weil unsere Gesellschaft das rausgekürzt hat aus dem Alltagsleben.
Mögen Sie deshalb den Liederabend so gerne, weil er so klein, so intim, so leise und persönlich ist? Also eigentlich all das, was in unserer Gesellschaft zumindest öffentlich immer weniger stattfindet.
Ich bin ein Textsänger, ich singe Texte. Immer! Wenn Schubert ein Lied geschrieben hat, ist er dem Text begegnet, wurde von einem Text inspiriert. Bis auf »Wozzeck« und wenige Ausnahmen von Hofmannsthal oder Oscar Wilde kenne ich nicht ein einziges Opernlibretto, das in die Nähe eines Fünfzeilers von Heine, Goethe oder Eichendorff käme. Ich kenn’ keins! Auch nicht die hochgelobten Da-Ponte-Opern von Mozart. Ich ertrage sie kaum noch, da ist nicht eine Zeile drin, die mich wirklich bewegt. Deswegen interessiert mich die Kunstform Oper auch so wenig.

»Ich singe an jedem Abend anders!«
Dann bleiben wir doch beim Liederabend und sprechen über die Zusammenarbeit mit Pianisten. Bei der Residenz an der Elbphilharmonie sind Sie mit verschiedenen Pianisten zu erleben, mit Alexander Lonquich und Ihrem Langzeitpartner Malcolm Martineau. Welchen Einfluss haben die auf Ihren Gesang, singen Sie anders mit unterschiedlichen Pianisten?
Ich singe an jedem Abend anders! Ich bin ein Wenig-Prober, deswegen schätze ich die langjährige Zusammenarbeit mit Pianisten – bei Malcolm Martineau reden wir da von mittlerweile fast 20 Jahren. Ich probe ja nicht, um eine Form zu finden, die ich für richtig halte, um sie dann zu replizieren. Mich interessiert der Moment, und da spielt Durchlässigkeit eine wichtige Rolle – darauf muss man sich einlassen, damit man den Moment überhaupt spürt.
Ich beschäftige mich mit einer Literatur, die mir nahegeht. Von der bin ich berührt, aufgewühlt oder bewegt. Mein Singen ist dann das Erzählen von meinem Bewegtsein. Und das ist jeden Tag ein anderes. Ich habe mittlerweile bestimmt über 50-mal die »Winterreise« gesungen – und jedes Mal war ich an einem Ort, an dem ich vorher noch nie war, an einer Textstelle, die ich völlig anders erlebt oder gespürt habe. Das macht es für mich so spannend: Ich will nichts darüber wissen, ich will etwas Neues darüber entdecken. Insofern ist das, was der Pianist spielt, unglaublich wichtig, weil ich vorher nicht weiß, was da kommt – und ich spontan darauf reagieren muss. Diese Gegenwärtigkeit im Singen, nirgendwo anders zu sein, als hier und jetzt – darum geht’s im Liedgesang.
Hat es einen Vorteil, dass Sie als Residenzkünstler wie in der Saison 2021/22 an der Elbphilharmonie mehrere Programme gestalten können und nicht nur eines wie sonst als Gastkünstler üblich?
Ich gebe Ihnen das plakativste und klarste Beispiel: Ich brenne für Ernst Kreneks »Reisebuch aus den österreichischen Alpen«, das ich für einen der bedeutendsten Liedzyklen überhaupt und sicher des 20. Jahrhunderts halte. Aber das Publikum reagiert immer noch angstvoll, wenn es diesen Namen auf dem Programmzettel liest, weil es den späten Krenek mit der atonalen Musik im Ohr hat. Dabei ist das »Reisebuch«, 1929 entstanden, ein Manifest dafür, dass man selbst in der Schönberg-Doktrin noch eine tonale, individuelle Klangsprache entwickeln konnte. Wann immer ich eine Residenz habe, will ich diesen Zyklus singen. Und wenn er von zum Beispiel Haydns »Jahreszeiten« oder Schumanns »Das Paradies und die Peri« mit Simon Rattle flankiert wird, dann lässt er sich auch besser verkaufen.
Sie singen im Rahmen der Residenz auch Bach-Kantaten mit Il Pomo d’Oro, einem Ensemble der historischen Aufführungspraxis. Macht es für Sie als Sänger einen Unterschied, ob Sie mit einem traditionellen oder einem Originalklang-Orchester musizieren?
Nein. Schlecht sind nur alle Orchester, die der Ansicht sind, dass sie wissen, wie es geht! Und zwar alle – egal, ob es die traditionsreichsten modern klingenden oder die traditionsreichsten historisch informierten sind. Die Bedingung für Qualität, für Wachheit, für Durchlässigkeit liegt nur in der Flexibilität, in der Offenheit und dem Interesse an Gegenwart.
In Ihrem Kammermusikabend mit Mitgliedern des Artemis Quartetts und Alexander Lonquich stellen Sie Lieder von Schubert und Schumann neben deren Kammermusik. Und auch in Ihrer langjährigen Zusammenarbeit mit der Musicbanda Franui setzen Sie das klassische Kunstlied in einen anderen Kontext. Muss das Publikum manchmal aus seiner Erwartungshaltung geschubst werden, brauchen wir diesen Perspektivwechsel?
Zunächst einmal bin ich als Liedsänger ein brennender Verfechter der Originalform: Ich halte den klassischen Liederabend für völlig ausreichend. Ich bin auch absolut kein Fan davon, daran irgendetwas zu ändern, nur um sagen zu können: Wir müssen mal was anders machen. Nein, muss man nicht! Man muss es nur besser machen! Ehrlicher machen! Es interessanter machen! Wenn ich andere Formate ausprobiere, hat das für mich ganz viel damit zu tun, mit wem ich das mache. Glauben Sie mir, mit einer Musicbanda wie Franui einen Liederabend zu gestalten, ist ein spannender, interessanter und inspirierender Prozess. Das erlaube ich mir, um es selbst erleben zu dürfen.
Im Gegensatz zu den meisten Ihrer Kollegen sind Sie in der digitalen Welt kaum präsent, es scheint fast, dass Sie sich den sozialen Medien völlig verweigern – oder täuscht der Eindruck?
Instagram ist das absolut Böse! Facebook ist das absolut Falsche! Ich kann gar nicht sagen, wie verheerend ich das alles finde. Das ist meine persönliche Einschätzung, obwohl ich weder ein Technologie- noch ein Kulturpessimist bin – und natürlich akzeptiere, dass meine Gesangsstudierenden eine digitale Präsentation brauchen, mit der ich nichts mehr anfangen kann. Obwohl ich es nicht will, muss ich mich also zwangsläufig damit auseinandersetzen. Aber was da gerade in dieser unserer Welt im Zusammenhang mit sozialen Medien passiert, ist ein totales Drama, in dem die größten Demokratien manipuliert und die einzelnen Individuen zu Konsumsoldaten erzogen werden. Und nicht zufällig habe ich Instagram an erster Stelle genannt, denn es schreit nach der gefakten Oberfläche als der bedeutendsten Kategorie der Existenz. Das ist der »Niederbruch des Lebenswerts«, wie es Krenek in seinem »Reisebuch« nennt: »die Verpöbelung des Menschen«.
Das Gespräch führte Bjørn Woll. Stand: 29.7.2021