Interview: Ivana Rajič
Wer auf seiner Geburtstagsfeier über 400 Gäste zählen kann, muss beliebt sein: Zum 150. des Jubilars Arnold Schönberg versammeln sich das NDR Elbphilharmonie Orchester unter Alan Gilbert, die vereinten Rundfunkchöre aus Leipzig, Berlin und Hamburg und fünf renommierte Solist:innen, um den Jahrhundertkomponisten mit seinen monumentalen »Gurre-Liedern« zu würdigen. Gemeinsam lassen sie die tragische Eifersuchtsgeschichte um den dänischen König Waldemar und seine Geliebte Tove zum klingenden Ereignis werden.
Das Liebespaar aus Schönbergs Orchesterliedzyklus – die charismatische Sopranistin Christina Nilsson und Simon O’Neill, einer der besten Heldentenöre unserer Zeit – nahm sich kurz vor Probenbeginn Zeit für ein Gespräch: Über den Romantiker und Revolutionär Schönberg, die Nähe seiner »Gurre-Lieder« zu Richard Wagner und Richard Strauss, und die spektakulären Konzerte im Großen Saal der Elbphilharmonie.
Audio-Einführung zur Opening Night
Christina, Simon, vielen Dank, dass Sie sich so kurz vor der NDR-Eröffnungsnacht die Zeit für ein Gespräch nehmen. Lernen Sie sich heute zum ersten Mal kennen?
Christina Nilsson: Ja, das ist sehr aufregend! Ich freue mich schon sehr darauf, mit Simon zusammen zu singen.
Simon O'Neill: Ich verfolge Christinas Karriere, die wirklich beeindruckend ist, schon seit längerer Zeit. Ich freue mich auch darauf, mit ihr zu singen. Zumindest mögen sich Waldemar und Tove – das spricht also für uns.
Auf jeden Fall. Wo wir gerade von den Rollen sprechen, die Sie singen: Können Sie zusammenfassen, worum es für Sie in Schönbergs »Gurre-Liedern« geht? Wie würden Sie einem Freund das Werk beschreiben?
SO: Ich habe es jetzt schon ein paar Mal gesungen. Wenn ich einem Freund die »Gurre-Lieder« beschreiben würde, würde ich sagen: Es ist ein Rockkonzert. Es ist Heavy Metal aus dem späten 19. und sehr frühen 20. Jahrhundert – bevor wir verzerrte Gitarren und AC/DC hatten. Aus akustischer Sicht ist es ein überwältigendes Erlebnis, ein Orchester mit 146 Musikern, drei riesige Chöre und Solisten zu hören. Es ist ein riesiges Stück und wird nicht oft aufgeführt. Wenn die »Gurre-Lieder« irgendwo aufgeführt werden, sollte man die seltene Chance ergreifen und hingehen!
CN: Für mich ist es das erste Mal. Ich sehe das Stück als Liebesgeschichte zwischen Waldemar und Tove – eine dänische Legende, die in eine Geschichte verwandelt wurde. Ich freue mich total darauf, diese epische, großartige, XXL-Aufführung zu machen.

Es ist interessant, dass Simon das Werk als Rock 'n' Roll bezeichnet, während Christina es als Liebesgeschichte sieht.
CN: Wissen Sie, Rocker sind die größten Romantiker.
SO: Wenn man sich die Texte vieler Kiss- und AC/DC-Songs anhört, handelt es sich um Liebeslieder. Wenn die »Gurre-Lieder« heute komponiert würden, würde man sie als Heavy Rock bezeichnen. Jedes Stück, in dem sieben Posaunen vorkommen, gefällt mir.
Die »Gurre-Lieder» sind ja tatsächlich eines der größtbesetzten Werke im gesamten klassischen Repertoire. Wie gehen Sie an ein solches Werk heran? Wie sehen die Vorbereitungen für die Live-Aufführung aus?
CN: Ich bereite es wie jedes andere Musikstück vor. Ich versuche, mich nicht von der Größe des Werks überwältigen zu lassen. Meiner Meinung nach ist es so geschrieben, dass alles zusammenpasst.
SO: Auf jeden Fall. Die gesamte Aufführung verlangt allen eine Menge Disziplin ab, einschließlich der Orchestermusiker. Am Tag der Aufführung muss die Stimme eines Sängers natürlich in der bestmöglichen Verfassung sein. Deshalb versuche ich, sie bei den Proben nicht zu sehr zu strapazieren. Wenn ich spüre, dass ich ein bisschen müde werde, reiße ich die eine oder andere extreme Stelle in der Gesangspartie nur an – denn Waldemars Partie ist ja ziemlich extrem. Ich wende die gleiche Technik an, wenn ich den Siegfried in Wagners »Siegfried« oder »Götterdämmerung«, Tannhäuser oder Tristan singe – all diese großen Wagner-Rollen. Und das mache ich auch bei den »Gurre-Liedern«.
Simon O'Neill singt Wagners »O Siegfried! Siegfried! Seliger Held!«
Sie haben selbst viele Wagner-Rollen gesungen, Christina. Sehen Sie auch diese Parallelen?
CN: Auf jeden Fall. Ich denke, dass die Rolle der Tove sehr viel Ähnlichkeit mit Wagners Elisabeth oder Elsa hat – es sind die großen, ansteigenden Legato-Linien, die man in dieser sehr romantischen Musik singen kann.
SO: Sie haben so recht. Die Rolle der Tove ist wie Elsa oder Elisabeth. Sie ist weniger wie Isolde oder Brünnhilde. Es sind die eher lyrischen Sopranrollen, die bei Wagner so schön sind. In einigen von Toves Liedern setzt Schönberg richtige Bilder ein. Es gibt einen tänzerischen Aspekt, bei dem man spüren kann, wie sie zusammen Walzer tanzen.
Christina Nilsson singt Wagners »Dich, Teure Halle«
Waldemar und Tove tanzen vielleicht, aber singen eigentlich während des gesamten Werks nie zusammen.
SO: Das stimmt, sie kommentieren beide interessanterweise das Geschehen in getrennten Liedern,. Bei Wagner gibt es nicht viele Passagen, wo in Harmonien gesungen wird. Obwohl Siegmund und Sieglinde eines der ganz großen Duette haben.
CN: Da muss ich Ihnen zustimmen. Dieser »Wagnerismus« weckt den Eindruck, als würden sie zusammen singen, obwohl tatsächlich jeder von ihnen einen langen Monolog singt.
SO: Es ist irgendwie langgezogen, gestreckt, mit den schönen kleinen Orchestereinlagen in der Mitte, die die Lieder miteinander verbinden. Das zweite Lied, in dem Waldemar nach seinem Pferd ruft, »Mein Ross«, liegt zwischen zwei der schönsten Liedern von Tove. Ihr Eröffnungslied, das ich wirklich liebe, ist so sinnlich – es ist sehr Sieglinde-artig, es ist ein »Du bist der Lenz«-artiger Gesang. Bei ihrem zweiten Lied, »Sterne jubeln, das Meer, es leuchtet« hat man das Gefühl, dass wir draußen im Mondschein Walzer tanzen: Davon singt sie. Und im nächsten Lied das Gleiche: »So tanzen die Engel«.
Schönberg hat die Gedichte von Jens Peter Jacobsen zunächst als Liederzyklus für Gesang und Klavier vertont, bevor er ein riesiges Orchesterwerk daraus machte. Ist es deshalb in gewisser Weise liedhaft?
CN: Ja, ich finde, dass Toves »Sterne jubeln« ein bisschen Strauss-ähnlich ist.
SO: Auf jeden Fall der Teil von Tove. Er ist wie Strauss' Opus 27 geschrieben – »Ruhe meine Seele«, »Heimliche Aufforderung«... Diese Stücke wurden nur sechs oder sieben Jahre früher geschrieben, Mitte der 1890er Jahre, als er heiratete. Er erinnert mich auch an Strauss' Opus 10, sogar an die »Wesendonck-Lieder«, die Wagner 40 Jahre früher schrieb. Es gibt Ähnlichkeiten. Ich habe die »Gurre-Lieder« nur mit Klavier gespielt. Die wirklich dramatischen Stücke findet man nicht in diesem ersten Klavierarrangement. Es sind eher liedartige Momente.
»Sterne jubeln, das Meer, es leuchtet« aus den »Gurre-Liedern«
Wie sieht es mit Waldemar in dieser Hinsicht aus?
SO: Er singt am meisten in dem Werk, insgesamt acht Gesangsstücke. Und die entwickeln sich von typischem »Liederabend«-Gesang – mittlere, sogar tiefe Lage für den Tenor, Bildmalerei von Booten auf dem Wasser, wie man das auch in Schönbergs Orchestersatz hören kann – zu recht dramatischen, sogar Heldentenor-artigen Momenten, z.B. wenn er sein Pferd anspricht: »Mein Ross«. Das ist das zweite Lied, das er singt. Ich muss sagen, wenn dieses Lied vorbei ist, fühle ich mich ein wenig erleichtert, weil es so gewaltig ist. An einer Stelle singt er ein hohes B: erschreckend!
Sie sind einer der wenigen Sänger, die die Rolle des Waldemar singen.
SO: Ja, es gibt nicht viele, die sie im Repertoire haben. Das war schon immer so, weil das Werk nicht oft aufgeführt wird. Ich erinnere mich, wie ich mit der Vorbereitung dieses Werks begann. Ich kaufte die Partitur im Jahr 2005. Ich war Ersatz für einen sehr guten Tenor bei einem Konzert unter der Leitung des großen Seiji Ozawa in Japan. Das war eine große Ehre.
Erinnern Sie sich an das erste Mal, als Sie die »Gurre-Liedern« hörten, Christina?
CN: Ich hörte die Musik zum ersten Mal, als mir die Rolle angeboten wurde: Ich ging sofort los, kaufte die Partitur und fing an, sie zu studieren. Mein erstes Gefühl war: Oh mein Gott, ist das schwierig! Aber dann habe ich mich mehr damit beschäftigt, und bin jetzt vor allem glücklich und aufgeregt, dass ich es machen darf.
Es war eine spannende Zeit in der Musikgeschichte, als Schönberg seine »Gurre-Lieder« 1910/1911 an der Schwelle zur Moderne vollendete. Im Vergleich zu Strawinskys »Sacre«, das 1913 uraufgeführt wurde, klingen Schönbergs »Gurre-Lieder« fast konservativ. Sehen Sie das auch so?
SO: Ja, und das ist der Grund, warum manche Leute das Werk nicht mögen. Sie denken, es sei zu konservativ. Sie denken, dass Schönberg in einem Stil schreibt, der nicht unserer Erwartungshaltung entspricht. Aber im dritten Teil der »Gurre-Lieder«, wenn der Chor einsetzt und der »Bauer« singt, haben wir die »Sprechstimme« mit Thomas Quasthoff – eine sehr modern entwickelte Musik. Sie wurde einige Jahre später komponiert als die ersten Lieder für Tove, Waldemar und den Waldvogel. Ich verteidige dieses Stück; ich finde es großartig. Um 1910 hatte Schönberg bereits einige erstaunliche Werke wie »Erwartung« geschrieben. Und sein »Pierrot« stammt ebenfalls aus dieser Zeit: Das ist 100 Prozent »Sprechstimme«.
Interessant, dass manche es für zu romantisch halten. Auf der anderen Seite gibt es Leute, die es sich womöglich nicht anhören, weil sie es für schwierige 12-Ton-Musik halten.
SO: Das stimmt. Viele Menschen tun sich mit dieser Musik schwer. Ich persönlich liebe Schönbergs Werke. Ich liebe Webern, ich liebe Berg. Die Zweite Wiener Schule war eine erstaunliche Gruppe von Musikern. Menschen, die die »Gurre-Lieder« gar nicht kennen, werden überrascht sein, wie romantisch sie sind. Die Musik ist sehr üppig. Und es gibt Momente mit ähnlicher Instrumentierung wie in Wagners »Ring«-Zyklus. So setzt Schönberg hier zum Beispiel eine Bassklarinette ein – ein Instrument, für das Wagner in »Die Walküre« und »Tristan« eine große Zuneigung zeigt. Sie bereichert das Orchester mit einem unglaublichen Farbton.
Was ist sonst noch charakteristisch für Schönbergs Orchestersatz?
CN: Bei Tove gibt es oft suggestive Bildmalerei, die auch von Schönbergs Orchestersatz unterstützt wird.
SO: Der Orchestersatz der Waldvogelszene ist so außergewöhnlich und unglaublich schön. Und in Waldemars Einsatz kurz vor Toves letztem Lied, »Es ist Mitternachtszeit« ist der Cellopart herrlich, wie er sich wieder zu einem Walzer entwickelt. Dann kommt natürlich wieder die Bassklarinette ins Spiel. Schönbergs Orchester zeichnet sich durch Wärme und Üppigkeit aus, ich finde es sehr wagnerianisch.
»Es ist Mitternachtszeit« aus den »Gurre-Liedern«
Worauf freuen Sie sich bei der Aufführung der »Gurre-Lieder« in der Elbphilharmonie mit dem riesigen Orchester und der gesamten Besetzung?
CN: Ich bin sehr gespannt darauf. Wenn ich Simon darüber reden höre, kann ich mir gar nicht vorstellen, wie es dort sein wird. Ich bin nervös, aber ich finde dieses Gefühl auch aufregend. Ich freue mich sehr auf die Proben und die Aufführungen mit all diesen tollen Kollegen. Vor zwei Jahren war ich zur NDR Opening Night in der Elbphilharmonie und habe Mahlers Zweite Sinfonie gesungen. Ich habe bereits sehr oft mit Alan zusammengearbeitet und habe viele Dinge zum ersten Mal mit ihm gemacht; er hat mich in diese Musikwelt eingeführt. Ich weiß es zu schätzen.
SO: Apropos Kollegen: Michael Schade singt den anderen Tenorpart, der sehr schwierig ist. Er ist ein phänomenaler Künstler, mit dem ich vor etwa 20 Jahren bei den Salzburger Festspielen gesungen habe. Ich war in Bayreuth mit Michael Nagy, der den »Bauern« singt. Jamie und ich haben in den USA häufig zusammen in »Götterdämmerung« und »Die Walküre« gesungen, auch in den »Gurre-Liedern«. Es ist eine Ehre, mit Thomas Quasthoff auf der Bühne zu stehen. Er gibt mir sehr viel Energie und wir sind persönlich befreundet. Aber dies wird mein Debüt mit dem Orchester und mit Maestro Alan Gilbert sein. Darauf freue ich mich sehr. Und natürlich ebenfalls darauf, mit Christina zu singen. In unserem Repertoire als Sänger, sei es Wagner, Schönberg, Mahler oder Strauss, müssen wir Kernreaktoren für unsere Kollegen auf der Bühne sein. Und das macht einen großartigen Auftritt aus – wenn die Energie, die sie dir geben, deiner Stimme hilft und die Energie, die du ihnen zurückgibst, wiederum ihrer Stimme hilft. Genau das werden wir tun: Tove und Waldemar werden füreinander Kernreaktoren sein.
Übersetzung: Clive Williams
- Elbphilharmonie Großer Saal
Opening Night: NDR Elbphilharmonie Orchester / Alan Gilbert
Schönberg: Gurre-Lieder – mit Simon O’Neill, Christina Nilsson, Jamie Barton, Michael Nagy, Michael Schade & Thomas Quasthoff
Vergangenes Konzert - Elbphilharmonie Großer Saal
Opening Night: NDR Elbphilharmonie Orchester / Alan Gilbert
Schönberg: Gurre-Lieder – mit Simon O’Neill, Christina Nilsson, Jamie Barton, Michael Nagy, Michael Schade & Thomas Quasthoff
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