John Luther Adams ist ein außergewöhnlicher Komponist. Über 40 Jahre lebte er im Norden Alaskas, dessen Landschaft seine Musik ganz maßgeblich beeinflusst hat. Einige seiner Werke sind explizit für die Aufführung draußen, unter freiem Himmel geschrieben. Dazu gehört auch sein Werk »Inuksuit«, das im Rahmen des Internationalen Musikfests Hamburg 2022 im Park Planten un Blomen aufgeführt wird. Inspiriert ist es von den gleichnamigen Steingebilden, die die Inuit über viele Jahrhunderte als Wegweiser in den kahlen Ebenen der Arktis errichteten. Im Podcast erzählt er, wie das Stück entstanden ist und und wie sehr ihn die Natur zu seiner eigenen Musik inspiriert.
»Inuksuit«, der Titel von Adams' Werk, bezieht sich auf Steingebilde der Inuit, die jahrhundertelang Routen markierten, beispielsweise zu einer guten Stelle zum Fischen oder Jagen. Übersetzt bedeutet das Wort so viel wie »In der Art der Menschen handeln«, erklärt der Komponist: »Als ich 2007 in meinem einsamen Studio in den Wäldern Alaskas mit der Komposition der ›Inuksuit‹ begann, hatte ich immer wieder die einsamen Steingebilde im Sinn.« Sie inspirierten ihn zu seinem Stück, das schon in der Art der Aufführung so ganz anders ist als alles, was man kennt. Geschrieben ist es nicht nur für die Aufführung unter freiem Himmel, sondern auch für eine flexible Anzahl an Perkussionisten. Richtwert: 9 bis 99.

Alle Teilnehmenden seiner »Inuksuit« stellte sich der Komponist während der Entstehung als einzelne kleine Steingebilde vor. Die einsamen Wälder im Sinn, sollte das Stück von den Weiten der Landschaft erzählen. Doch es kam anders: »Ich dachte die ganze Zeit, ich schreibe ein Stück über die Einsamkeit. Bis ich bei der ersten Aufführung der ›Inuksuit‹ begriff: Das stimmt ja gar nicht, das ist ein Stück über Gemeinschaft!« Da das Stück für eine Aufführung unter freiem Himmel geschrieben ist, werden alle Musiker:innen gleichzeitig auch zu Solist:innen, denn was sie spielen, ist einzigartig.
Genauso verhält es sich mit dem Publikum. Es gibt keine Sitzplätze, daher können sich die Zuhörer:innen selbst aussuchen, von wo aus sie zusehen möchten. Durch die Bewegung des Publikums wird die Musik aktiv mitgestaltet. »Du kannst dir deinen ganz eigenen Mix der ›Inuksuit‹ erschaffen!«, sagt Adams. Das zieht sich durch seine ganze Musik, denn auch beim Komponieren kennt Adams keine Grenzen oder starren Muster. »Ich folge der Musik überall dorthin, wo sie mich hinleitet. So komponiere ich und genauso sollen die Zuhörer:innen meine Musik auch wahrnehmen.«
Am Puls der Zeit
Aber wie steht er dann zu Aufnahmen seines Stücks, in denen der Klang ja nicht mehr mitgestaltet werden kann. Würde er überhaupt empfehlen, sich die Aufnahme von »Inuksuit« bei Spotify anzuhören? John Luther Adams sagt dazu ganz klar ja! »Es gibt keine definitive Performance der ›Inuksuit‹! Es geht darum, die Musik dort zu entdecken, wo sie gespielt wird. Die Musik wird geprägt von ihrer Umgebung – und die muss nicht unbedingt die Wildnis Alaskas sein, sondern eben der Ort, an dem sich die Zuhörer:innen gerade befinden.« Und dafür reicht manchmal eben auch eine Aufnahme.
Mittlerweile ist die »Inuksuit« sein am häufigsten aufgeführtes Stück. Woran das liegt? »Leider leben wir heute in Zeiten, in denen Gewalt und Unmenschlichkeit gegenüber anderen und auch gegenüber unserem eigenen Zuhause, der Erde, keine Seltenheit sind. In meinem Stück wollte ich gewissermaßen auch meine ideale Gesellschaft erschaffen, so wie ich sie gern erleben würde. Es geht um Gemeinschaft und Verbundenheit zwischen den Menschen und der Erde mit all ihren Lebewesen.«
Was sicherlich auch eine Rolle spielt: Das Stück lädt sein Publikum dazu ein, sich im Raum der Musik zu verlieren und dabei die Umgebung deutlicher wahrzunehmen. In New York hörte man bei einer Performance beispielsweise nach dem dröhnenden Höhepunkt des Stücks plötzlich Stadtgeräusche als Teil der Stille – spielende Kinder, das Rauschen des Straßenverkehrs, Vögel. Das Stück hilft dabei, zu entschleunigen und die Verbindung zur Natur deutlicher wahrzunehmen. Und trifft damit einen Nerv der Zeit.
»Was ist Raum eigentlich und wo sind die Geräusche darin verortet? Man könnte die Kernidee meiner Musik mit einem Aufenthalt im Wald vergleichen. Dort taucht man sofort in die Geräuschkulisse der Natur ein, in das Rauschen der Bäume, das Lichtspiel der Blätter, die Gerüche des Waldes und das Gefühl der Erde, auf der man läuft. Diese Ganzheitlichkeit möchte ich in meiner Musik auch erschaffen. Man soll sich im Raum, in der Zeit und in der Musik verlieren.«
John Luther Adams
Die Idee, das Umfeld in die Musik einfließen zu lassen, hatten andere Komponisten natürlich auch schon. Da fallen einem zum Beispiel Ligeti ein oder auch Debussy mit seinem Werk »La mer«. Ob er sich in deren Tradition sieht? Nein, Adams braucht beim Komponieren die volle Freiheit, das Gefühl, Neues zu entdecken. Dabei vergleicht er sich mit einem Menschen aus der Steinzeit, der gerade das Feuer entdeckt. Außerdem gesteht er lachend: »Debussy schüchtert mich ein! Wenn ich beim Komponieren daran denken würde, in seiner Tradition zu stehen, würde keine einzige Note aufs Blatt kommen.«
Gegen Ende des Gesprächs kommt die Frage auf, warum Adams so selten zu den Aufführungen seiner Werke reist. Es seien vor allem Umweltgründe, sagt er. »Es gibt ganz viele wunderbare Aufführungen meiner Musik mit tollen Künstler:innen und an spannenden Orten. Aber für mich hat die Pandemie viel verändert. Davor bin ich viel herumgereist, obwohl mir das Thema Natur schon immer sehr am Herzen gelegen hat – nicht nur in der Musik. Während der Pandemie war ich dann gezwungen, zu Hause zu bleiben, was mich auch zum Überdenken meines Handelns bewogen hat. Und es hat einen praktischen Nebeneffekt: Es erhöht meine Produktivität, zum Komponieren brauche ich die Routine und Ruhe des Alltags. Es tut mir also sehr gut, zu Hause zu bleiben!« Außerdem frage er sich immer wieder, was eigentlich seine Aufgabe in der Gesellschaft sei. Er hoffe, dass seine Musik die jüngeren Generationen dabei unterstützen könne, neue Wege zu finden, in Einklang mit unserer Welt und der Natur zu leben.
Das Interview führte Tom R. Schulz.
Text: Anastasia Päßler
- Elbphilharmonie Großer Saal
John Luther Adams: Become Ocean
Basel Sinfonietta / Andreas Haefliger / Titus Engel – Internationales Musikfest Hamburg