Eigentlich sind die Dirty Projectors bekannt für experimentellen Indie-Rock: für wagemutige Harmonien, haarige Rhythmen und elektronisch verzerrte Sounds. Im vergangenen Jahr jedoch lancierte die Gruppe, damals schon gut eineinhalb Jahre in stabiler Besetzung, ein Projekt abseits des bisherigen Kurses.
Die vier Musikerinnen und Musiker rund um ihren kreativen Fixpunkt und Gründer Dave Longstreth veröffentlichten eine Folge von fünf EPs. »EP« steht für »Extended Play« und bezeichnet kleinere musikalische Projekte, die kein ganzes Album füllen. Die Dirty Projectors nutzten nun diese Miniatur-Alben, um jeweils ein anderes Bandmitglied künstlerisch ins Zentrum zu rücken.
In der vierten dieser allesamt sehr verschiedenen Platten übernimmt die Sängerin und Keyboarderin Kristin Slipp den Lead: Earth Crisis. Schon länger hatten sich die Dirty Projectors mit dem Klimawandel beschäftigt, zuletzt 2010 auf der EP Mount Wittenberg Orca, auf der sie mit der Sängerin Björk in lautmalerisch-luftigen Songs das Ende der Welt besingen. Und auch Earth Crisis kreist subtil um die Folgen der Umweltzerstörung und den Sinn des Menschseins auf der Erde.
Die Musik ist auf weitverzweigten Pfaden entstanden: Beim Durchstöbern einer alten Festplatte stieß Dave Longstreth auf Orchesterbearbeitungen von Songs der Punkband Black Flags, die er mit Loops, Echo-Effekten und holpernden Rhythmen zu neuen Tracks formte. »Es fühlte sich an wie ein biologischer Prozess: Recycling, Neues aus Altem machen«, so der Komponist.
Und: Gegensätze vereinen. Wie später in Song of the Earth in Crisis ließ Longstreth sich auch schon bei diesen Arrangements für Streichquar- und Bläserquintett von den komplexen Harmonien der Spätromantik inspirieren, ebenso aber von Avantgarde-Pionieren wie Igor Strawinsky und dem Minimalismus der 70er Jahre. Sein Material zerlegt und verfremdet Longstreth digital. »Ich liebe solche Collagen«, bekennt er. »Sie enthalten alle Einzelteile, aber ergeben trotzdem etwas ganz Neues. Sie sind ein Mittel, um zum Wesentlichen vorzudringen.«
5 Fragen an Dave Longstreth: Der Frontsänger der Dirty Projectors über sein erstes Orchesterwerk und unsere Verantwortung gegenüber der Natur.
Das Wesentliche im ersten Song Eyes on the Road (Blick auf die Straße) verkünden die ätherischen Stimmen von Kristin Slipp und Dave Longstreth: »Nothing we could ever dream could make us whole« (Nichts von dem, was wir uns je erträumen, kann uns heilen). Die Holzbläser ignorieren diesen Umstand und zeichnen eine pastorale Idylle. Ihre Melodie spaltet sich auf in Minimal-Pattern und verfällt in Statik. Eine wattegepolsterte Illusion.
Akkord-Stöße der Streicher bilden das Fundament in There I Said It (Ich sagte es ja), das klingt »wie eine aktivistische Variante von Destiny’s Child«, heißt es auf dem Popblog shitesite. Durch Bird’s Eye (Vogelperspektive) ziehen sich Sprünge wie auf einer Schallplatte. Abrupt wechseln Tempo, Beat und Charakter; »which way does the wheel turn?« (Wohin dreht sich das Rad), singen Dave und Kristin. Ausgang ungewiss.
Die Collage-Technik kommt auch im rätselhaften letzten Lied zum Tragen: Now I know (Jetzt weiß ich es). Einstimmig zerlegt das Intro Akkorde in ihre Bestandteile. Seine Unbestechlichkeit löst sich auf in einen zerbrechlichen Gesang, den die Streicher auf Flageolettflügeln tragen. Gefolgt von einer Art Hymne, in der Slipps heller Sopran alles überstrahlt. So zyklisch wie die Natur ist hier die Musik: »Loslassen, Zerfallen, um neues Leben hervorzubringen«, sagt Longstreth.
Text: Laura Etspüler, Stand: 11. August 2021