Text: Walter Weidringer; Stand 16.11.2022
»Ich bin ja kein Komponist«, sagt Thomas Larcher, »ich bin eigentlich Bildhauer.« Ein paar Obertöne an Ironie schwingen bei seinen Worten mit – aber was genau meint der Mann? Versteht er seine Musik gleichsam dreidimensional? Diese Metapher würde man sofort unterschreiben, so plastisch und zum Greifen, Begreifen nah tönen seine Werke immer wieder. Oder frönt er im Geheimen wirklich einer anderen Kunst? Ja und nein: »Ich schreibe alles mit der Hand. Das heißt, ich radiere Unmengen an Noten wieder aus. Und aus den Radiergummibröseln forme ich kleine Kugeln. Vielleicht hundert pro Tag, ganze Töpfe voll. Und das sind meine Skulpturen, an denen ich arbeite.«

Die Anekdote führt gleich tief hinein ins Denken einer Künstlerpersönlichkeit, die sich die eigene Stimme durch viele Zweifel und Widerstände erarbeiten musste. Dass Larcher vieles von dem, was er zu Papier gebracht hatte, lieber wieder ausradieren sollte, das wurde ihm von einigen Verfechtern der musikalischen Avantgarde schon bald geraten: tonale Harmonien und Melodien vor allem, die in seinen Werken eine erinnerte Vergangenheit repräsentieren, eine wundersame, neu entdeckte Zukunft verheißen oder schlicht die Schönheit des Augenblicks einfassen mögen.
Mit einem herbeizitierten »Als ob«, mit ironischer Distanz und polystilistischen Collagen hat das bei ihm jedoch nichts zu tun: Larcher nutzt die widerstreitenden Elemente, um seiner Musik ein enormes dramatisches Gefälle einzuschreiben. Kontraste zwischen Tonalität, Atonalität und geräuschhaften Ereignissen, zwischen virtuosen Zuspitzungen und großen Gesten in seinen Werken können emotionale Sturmböen entfesseln oder einen Hauch von Zärtlichkeit und Trauer hinwehen. Der spontan verständliche Ausdruck ist sein Movens – ein Ausdruck, den er dennoch mit aller intellektueller Konsequenz und künstlerischer Redlichkeit erzielt. Seitdem er sich das alles traut, also die erstarrten Gebote des »Neuen« in den Wind schlägt, setzt er den Radiergummi nur noch seinem eigenen Empfinden folgend ein. Ein Perfektionist bleibt er dabei dennoch.
Der Mythos des Eigenen
Thomas Larcher hat die tonalen Gravitationskräfte nicht völlig vergessen – oder besser: er tut nicht so, als müsste und könnte man sie vergessen; vielmehr versteht er es, sie in frischem Kontext mit Bedacht zu nutzen. Da spielt auch seine Skepsis gegenüber musikalischer Individualität hinein: »Als ob irgendjemand behaupten könnte, völlig eigenständig zu komponieren! Dabei ist doch das ganze Leben ein Nachahmen: Menschen wollen so sein wie X oder Y, machen sich Dinge zu eigen. Rein autarke, autochthone Kunst gibt es nicht.« Das hat er, der 1963 in Innsbruck geboren wurde und zunächst als einer der versiertesten und vielseitigsten Pianisten seiner Generation Karriere gemacht hat, rasch durchschaut. »Durch die vielen Werke, die ich als Pianist in Auftrag gegeben habe, merkte ich aber auch, wie sich in der Kunst jeder von den anderen abgrenzen, ja bewusst distanzieren will – man muss sich ja schützen, um etwas zu finden, was das Eigene sein könnte.«

Den »Mythos des Eigenen« will Larcher dabei hinterfragen – und es gelingt ihm auf eine Weise, die man getrost individuell nennen darf. Gerade auch deshalb, weil seine Musik nicht nur emotional ersonnen ist, sondern eben auch die Fähigkeit besitzt, diese Emotionen einem breiten Publikum unmittelbar verständlich und nachvollziehbar zu machen. Feinfühlig reagiert er zudem auf »die große Debatte zur ›kulturellen Aneignung‹, die aus den USA und England auf uns zurollt und in Europa noch gar nicht in der eigentlichen Intensität angelangt ist«. Seine musikhistorische Erkenntnis: »Ohne den viel geschmähten ›Exotismus‹, ohne die Pariser Weltausstellung 1889 mit ihrer Präsentation javanischer Gamelan-Musik gäbe es keinen Debussy, der das vielleicht zunächst einmal nur nachgeahmt, dann aber zu etwas ganz anderem, Fantastischem gemacht hat. Und ohne Debussy wäre auch die Jazzharmonik spätestens seit der Swing-Ära völlig anders verlaufen.«
Das Komponieren sei bei ihm quasi immer schon da gewesen, sagt Larcher, der als Jugendlicher eine fröhliche Gleichzeitigkeit der Stile erkunden konnte. Später in Wien hat er (neben dem Fach Klavier, u. a. bei Elisabeth Leonskaja) auch ganz förmlich Komposition studiert – und stieß plötzlich auf Diktate, Zwänge, Gebote und Verbote in den engeren Kreisen des »Neuen«: Molldreiklänge? Um Himmels willen!
Gegen alle Widerstände
Sich abwendend habe er ohnehin so viel Zeit mit dem Klavier verbracht, dass die eigene Musik ins Hintertreffen geraten sei. Mit den Stücken, die er trotzdem geschrieben hat, fühlte er sich dann aber nirgendwo so recht zugehörig. Sein Espressivo-Gestus – klinge der nicht vorgestrig?, musste er sich fragen lassen. Auch die Rolle des Komponisten als eloquenter Anwalt seiner selbst würde Larcher, so seine schmerzliche Erkenntnis, nicht ausfüllen können. Aus den Selbstzweifeln half immerhin der Gedanke: »Wenigstens spiele ich viel Neue Musik und lerne sie dadurch besser verstehen.« Eben dafür gründete Larcher 1993 das Festival Klangspuren in Schwaz (Tirol) – weil er es leid war, bei etablierten Veranstaltern mit seinen zeitgenössischen Programmen abzublitzen. Der Erfolg gab ihm auch dabei recht.
Schließlich wurden an den pianistischen Solisten und Kammermusiker immer mehr Anregungen und Ermutigungen zum Komponieren, ja sogar Aufträge herangetragen: Manfred Eicher, Kim Kashkashian, Dennis Russell Davies, das Artis-Quartett, Lars Vogt, Heinrich Schiff, Till Fellner waren die Prominentesten der ersten Zeit. »Damals hab ich oft ungläubig gedacht: Was haben denn die, warum wollen die was von mir?«, erzählt Larcher. »Offensichtlich haben sie irgendetwas in meiner Musik gehört, von dem sie dachten, das könne man auf dem Podium beleben, leben, vermitteln. So fand ich Seelenverwandte.«
Das Verhältnis zu ihnen sieht Larcher ähnlich wie das zwischen dem Architekten und dem Bauherrn eines Hauses, ja überhaupt als Handwerksgemeinschaft: »Hinter mir stehen Schafzüchter, die für Darmsaiten sorgen, Förster und Geigenbauer; danach Musiker, Bühnenbildner, Regisseure, Toningenieure, Radioleute. Ich bin nur ein Glied von vielen.« Die Autorinnen und Autoren der Texte nicht zu vergessen: »Sobald Musik und Wort in Verbindung treten, ist das wie in einem Magnetfeld: Da richten sich dann die Zeichen der Musik für mich entlang einer klaren Bedeutungsrichtung aus.«
Reinhören :Die Berliner Philharmoniker mit Larchers Klavierkonzert
Larcher stellt sich in eine alte Tradition: jene des komponierenden Musikers oder musizierenden Komponisten. Früher war diese Doppelrolle der Normalfall, doch heutzutage ist beides meist voneinander entkoppelt, und eben darin sieht er einen Grund für viele Probleme der Neuen Musik: wenn sie sich etwa hermetisch mit reinen Materialfragen beschäftigt, der Forderung nach etwas noch nie Dagewesenem nachjagt und sich dabei gleichgültig gegen ein breiteres Publikum zeigt. Dadurch büße sie an Bedeutung ein. »Es hat immer verschiedenste Strömungen parallel gegeben, Schönberg und Gershwin waren Zeitgenossen, sogar Freunde; Ginastera und Schostakowitsch, Villa-Lobos und Ravel, Stockhausen, die Beatles und Pink Floyd. Dass die Musik nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihren Spielarten bis hin zu Pop, Rock’n’Roll, Country & Folk oder Bob Dylan auch politisch höchst brisant und sogar relevant war, kann man sich heute kaum mehr vorstellen.«
Als Komponist fühlt sich Larcher zwar privilegiert, dafür habe er aber ein finanziell weitaus sichereres Leben als Pianist und Intendant aufgeben müssen, weil es ihm nicht die nötige Zeit und Ruhe gelassen habe. Das Komponieren versteht er im weitesten Sinne als gesellschaftspolitische Arbeit, bei der ihm das Weiterführen von Traditionen wichtig ist. »Es geht mir darum, die Qualität des Zuhörens in eine andere Zeit zu bringen, zu erhalten oder vielleicht gar zu retten.« Die im Serialismus mit seinen durchorganisierten Einzelereignissen ohnehin schon »zerpixelte Musik noch weiter zu zerpixeln«, das sieht Thomas Larcher nicht als seine Aufgabe an. Stattdessen will er Dinge zusammenführen, daran arbeiten, die Musik der Gegenwart auch jenen Menschen verständlich und nachvollziehbar zu erhalten, die sich nicht ständig damit beschäftigen und auch keine spezielle Ausbildung haben.
Und das bezieht sich durchaus auf alle Beteiligten: »Ich schreibe für klassisch trainierte Musiker, die ich abholen will, um ihr Musizieren zu erweitern, sie zu fordern, weiterzubringen, anzuregen. Und ich schreibe für ein ›klassisches‹ Publikum – für Menschen, die klassische Musik mit den Ohren lesen können und sich auf dieser Grundlage 25 Minuten lang auf etwas Unbekanntes einlassen. Die gibt’s hoffentlich immer noch, und die wollen hoffentlich immer noch etwas Neues hören.«
Am Puls der Zeit
Mit dem Newsletter »cutting edge« über alle Konzerte mit zukunftsweisender Musik in der Elbphilharmonie auf dem Laufenden bleiben.