Interview: Tom R. Schulz, Oktober 2022
Ein Oktobermorgen in Karlsruhe, zu Hause bei Wolfgang Rihm (1952–2024), der zu den bedeutendsten Komponist:innen der Moderne zählte.
Etliche Aufführungen Ihrer Werke sind mit Hamburg verbunden. Etwa die Musiktheater »Jakob Lenz« und »Die Eroberung von Mexiko«. Welche Erinnerungen haben Sie an Hamburg?
Nur gute. Ich habe sehr gern Zeit dort verbracht. Ich war eingeladen als Gast der Stadt im Programm, »Künstler zu Gast in der Hansestadt«. Hinter dem Hotel Atlantic hatte ich eine sehr schöne Wohnung, am Holzdamm an der Ecke, mit Blick vor zur Alster. Das war 1979. Und wenn ich mich recht erinnere, war die Alster zugefroren. Da bin ich darauf spaziert.
Sie haben oft gesagt, dass Sie lieber über den Prozess des Komponierens reden als über die Werke selbst.
Immer über die Dinge reden zu müssen, das ist eine Unsitte. Es scheint eine Schwierigkeit zu sein, dieses Nicht-Sprachliche der Musik bei sich zu belassen. Es ist so anzunehmen, wie es ist. Nämlich eine Äußerung, die durchaus sprachähnlich sein kann, aber nicht im Sinne eines gesprochenen Textes, der eine Sinneinheit über Grammatik verbindet. Es ist eine andere Form der Artikulation. Und gerade das ist etwas, was man in Ruhe lassen sollte.
Aber ist das nicht auch ein bisschen Ihre Schuld, weil Sie so gut mit dem Wort sind? Es gibt ja Komponisten, die reden nicht gern.
Dazu gehöre ich. Aber anscheinend sage ich das in einer verständlichen Form. (lacht) Ich rede sehr ungern über Musik. Denn Musik ist eben genau das, was nicht sprachlich im Sinne der Mitteilbarkeit, der geführten Rede, auf einer Inhaltsebene von Mensch zu Mensch möglich ist. Es ist etwas anderes. Es ist sehr wohl von Mensch zu Mensch möglich, etwas, was zu berühren versteht. Aber nicht über das, was wir verbales Sprechen nennen.
Musik ist die Sprache des nur durch Töne Sagbaren, hat Arnold Schönberg gesagt.
Das ist ein sehr schöner, treffender Ausdruck. Und je älter ich werde, umso unmöglicher wird es eigentlich. Man hat etwas gemacht, und man muss dann noch etwas dazu sagen. Als ob man dem misstraue.
Wenn Sie für bestimmte Interpreten schreiben: Denken Sie dabei an die Musikerin, den Musiker, der das spielt?
Ich denke schon manchmal an die Möglichkeiten, die jemand hat, aber das trägt nicht grundsätzlich zur Gestalt des Stückes bei. Es ist eher ein Seitenweg. Das Stück wird, wie es wird. Das Werk wird, wie es will.
Es gibt von Kleist diesen Satz der »allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden«. Ist das Komponieren für Sie ein ähnlicher Vorgang?
Sicher. Wenn ich anfange zu arbeiten, weiß ich nur ganz wenig. Ich lerne das Stück durchs Schreiben kennen. So, wie es sich mir zeigt. Dann hängt es von meiner Fähigkeit ab, es in eine wiedergabefähige Schrift zu führen. Aber ich rede jetzt über Dinge, die mir zur Zeit gar nicht gegeben sind. Ich bin zu schwach, um zu arbeiten. Früher konnte ich mich hinsetzen und nach 15 Stunden bin ich aufgestanden und habe etwas anderes gemacht. Das schaffe ich physisch nicht mehr. Durch viele Dinge, die mit der Krebserkrankung zusammenhängen. Das Durchhalten ist ja das Wichtigste. Das durch Monate, vielleicht Jahre An-der-Sache-bleiben. Das Nicht-Locker-Lassen.
Kommen Sie denn überhaupt zum Komponieren?
Im Moment sehr wenig. Einfälle sind ja da! Es geht darum, die Realisation der Einfälle, ich sag mal, zu knacken. Das Durchhalten, das Durchstehen, das Überstehen der Anfeindung, die aus der Sache selber kommt.
Macht es Sie nicht rasend, dass Sie nicht alles herauslassen können?
Ja. Das macht mich einerseits traurig, andererseits verlegen. Ich komme mir vor wie ein Hochstapler. Ich behaupte ständig, dass ich etwas tue, aber da entsteht gar nichts.

»Ich glaube, dass das meiste, was künstlerisch von Belang ist, aus Obsessionen stammt, aus tieferen Schichten, die uns gar nicht so zur Verfügung stehen.«
Wolfgang Rihm
Aber Sie müssen doch überhaupt nichts mehr beweisen.
Nein, das ist mir klar. Es geht um die selbstgestellten Aufgaben. In allem, was ich zu schreiben versuche, zeigt sich die Gestalt eines alten Wunsches – aus der Kindheit noch. Ich glaube, dass das meiste, was künstlerisch von Belang ist, aus Obsessionen stammt, aus tieferen Schichten, die uns gar nicht so zur Verfügung stehen. Die sich aber realisieren in unserer Arbeit. Das sind Gefühlswerte, innere Erregungen und Bewegungen. Ich kann sie nicht veräußern. Aber ich weiß, dass ich sie habe und dass sehr viel daraus entsteht.
Sie sagten einmal, Sie schreiben eigentlich an einem großen Werk.
Es ist, als hätte man einen ganz großen Block Musik in sich, und man schneidet immer ein kleines Stück ab. Man haut, klopft und kratzt es ab. Vielleicht habe ich es sogar somatisiert [die geistig-seelischen Vorgänge in den Körper übertragen, Anm.], ich habe ja ein Riesengewächs im Oberschenkel gehabt. Vielleicht war es das!
Es gibt von der Lyrikerin Ilse Aichinger den Satz: Es muss gar nichts bleiben.
Ja, es muss eigentlich gar nichts bleiben. Ich bin froh, dass ich nie eine Modefigur war. Dass ich nie für eine gerade angesagte Form der Artikulation habe stehen müssen. Und nie ein Garant war für das Momentane, sondern immer irgendwie verdächtig. (lacht)