Seit 2007 ist Christoph Lieben-Seutter Generalintendant von Laeiszhalle und Elbphilharmonie und hat damit einige Hochs und Tiefs des Konzerthauses an der Elbe miterlebt. Auch wenn die Bauphase bekanntlich besonders skandalträchtig war, sind sich mittlerweile aber alle einig, dass die Elbphilharmonie zu einer Erfolgsstory für die Musikstadt Hamburg und die Klassikwelt insgesamt geworden ist. Anlässlich des fünften Geburtstags des Konzerthauses spricht Lieben-Seutter im Interview mit Hartmut Welscher für das Online-Musikmagazin VAN über Skandale rund ums Haus, uneinsichtige Sänger und Tabus beim Konzertsaalbau.
Christoph Lieben-Seutter im Gespräch mit Hartmut Welscher
Lassen Sie unsere Rückschau mit der pandemischen Gegenwart beginnen. Sie haben am 20. November 2G bei Konzerten eingeführt, zehn Tage früher als Sie eigentlich mussten. Warum?
Wir wurden vor die Wahl gestellt, entweder die Konzertgastronomie zu schließen oder auf 2G umzustellen. Da fanden wir die Umstellung besser. Es hat sich dann auch bewahrheitet, dass wirklich nur eine ganz kleine Minderheit unserer Konzertbesucher nicht geimpft ist. Beim ersten 2G-Konzert mit den Berliner Philharmonikern hatten wir von 1.300 verkauften Tickets nur 35 Rückgaben. Es war uns wichtiger, dass die Normalität des Konzertbesuchs erhalten bleibt, man vorher einen Kaffee oder in der Pause ein Gläschen Wein trinken kann, zumal klar war, dass ein paar Tage später ohnehin 2G um die Ecke kommen würde.
Gab es Beschwerden vonseiten ungeimpfter Konzertbesucher?
Gar nicht. Das wäre zwei Monate früher sicher anders gewesen. Wir wollten 2G auch lange nicht, weil wir als Haus für alle zugänglich bleiben wollten. Aber die Faktenlage hat sich zunehmend verändert, so dass das Verständnis für strengere Maßnahmen überall wächst.
Viele Kultureinrichtungen haben nach der Öffnung darüber geklagt, dass das Publikum wegbleibt. Wie war das bei Ihnen?
Das haben wir bis letzte Woche nicht gemerkt. Wir haben einen wunderbaren, sehr inspirierenden Herbst hinter uns. Wir durften den Saal zwar nur mit 60 Prozent auslasten, aber die 1.300 Plätze waren praktisch immer voll, obwohl die Abos ausgesetzt waren und Touristen keine große Rolle spielten. Man hat der Elbphilharmonie ja gerne angekreidet, dass sie ein Touribunker sei. Dabei hat sich das Konzertpublikum in und aus Hamburg in den letzten fünf Jahren verdreifacht.

Es gab in den letzten fünf Jahren regelmäßig Aufregerthemen rund um die Elbphilharmonie: die Akustik, Jonas Kaufmann, der nicht mehr dort auftreten will, das Publikum, das sich vermeintlich unziemlich benimmt, Treppenstürze, jüngst eine Klage … Medial hat die Elbphilharmonie auf jeden Fall geliefert. Welches dieser Themen hat Sie persönlich am meisten genervt?
Schon der Kaufmann, wahrscheinlich. Es war ein mediokres Projekt, das wir aufgrund der Gesamtkonstellation eigentlich ablehnen wollten: Mit einem unerfahrenen Dirigenten Mahlers »Lied von der Erde« zu machen und dabei Tenor und Bariton zu singen, ist ein großes Wagnis, selbst für einen Künstler von Kaufmanns Format. Dazu kommt die Erwartungshaltung seiner Fans, die statt »E lucevan le stelle« eine Stunde Mahler ertragen mussten. Aber das Tourmanagement gab uns zu verstehen, dass die Finanzierung der gesamten Tournee vom Konzert in der Elbphilharmonie abhinge. Letztlich haben wir also zugestimmt und auf Herrn Kaufmann vertraut. Auf der Tournee gab es in anderen Städten ebenfalls Probleme und viel mehr Publikumsbeschwerden als in Hamburg. Nur bei uns waren nicht die Künstler schuld, sondern der Saal.
Only no publicity is bad publicity.
Ja, das habe ich meinen Mitarbeitern manchmal zum Trost gesagt. Wir können uns aber auch echt nicht beschweren, das Feedback auf die ersten Jahre Elbphilharmonie war irre groß und gut, national wie international. Natürlich geht bei über 2.700 Konzerten auch mal was schief. Ich hatte viel schlimmere Dinge erwartet, zum Beispiel, dass aus technischen Gründen Vorstellungen ausfallen, dass es täglich wahnsinnige Staus gibt … und niemals hätte ich von so einer Auslastung geträumt.
Kaufmann hat ja gesagt, dass er jetzt erstmal in der Laeiszhalle singen will, was er auch nächstes Jahr tun wird. Haben Sie mit ihm nochmal gesprochen?
Nur direkt nach dem Konzert. Dass er lieber in der Laeiszhalle auftritt, für die ich ja auch verantwortlich bin, ist mir sehr recht. Ich freue mich über jedes gute Konzert, und die meisten Liederabende und Klavierrecitals finden dort statt, weil es keine Plätze hinter der Bühne gibt. In der Elbphilharmonie muss mehr Rücksicht auf die besondere Anordnung des Saales genommen werden. Den Sängern geben wir manchmal Tipps wie: ›Bei dieser Art von Repertoire stell dich besser nicht an die Rampe, sondern weiter hinten hin.‹ Manchmal hast du Künstler, die die Tipps dankbar annehmen, und manchmal halt nicht. Wir haben genügend tolle Konzerte mit Gesangssolisten erlebt, auch das »Lied von der Erde« hat mit anderen Dirigenten gut funktioniert. Aber du brauchst schon Künstler, die ein Gespür für die Raumakustik haben.

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Die Elbphilharmonie hat schon eine spezielle Akustik …
… die ich aber in keiner Weise tauschen würde gegen etwas anderes. Die Akustik ist für viele Arten von Musik fantastisch, vor allem für komplexere Partituren, für moderne Musik, für Elektroakustik. Bei Alter Musik habe ich selbst eine Lernkurve hinter mir. Ich dachte erst, dass die im Großen Saal nicht so gut aufgehoben sein würde, weshalb wir sie lieber in der Laeiszhalle gelassen haben. In der Praxis stellte sich dann aber heraus, dass der Saal quasi ein Paradebeispiel dafür ist, wie man sehr wohl delikate Musik mit Originalinstrumenten vor 2.000 Leuten spielen kann. Die Akustik ist so fokussiert und intim, dass du auch die leisesten Nuancen und feinsten Schwingungen der Instrumente sehr gut bis in die letzte Reihe hören kannst, gerade bei kleineren Besetzungen. Dafür ist zum Beispiel bei Debussy die Klangfarbenmischung schwerer zu erzeugen als in einem anderen Saal. So hat jeder Saal seine Stärken und seine Schwächen, und es macht in gewisser Weise auch Spaß, damit zu arbeiten.
Klingt der Saal heute anders als vor fünf Jahren?
Es kommen jetzt reihenweise Dirigenten zu mir, die zum zweiten, dritten, vierten Mal zu Gast sind und fragen: ›Was habt ihr jetzt geändert im Saal? Es klingt so viel wärmer und angenehmer, am Anfang habe ich mich etwas schwergetan.‹ Ich habe mir schon überlegt, ob ich da nicht schummeln und einfach sagen soll: ›Ja, wir haben da was baulich verändert.‹ Toyota hat immer gesagt, dass man den Saal erst nach ein paar Jahren beurteilen kann, wenn er eingespielt ist. Woran auch immer das physikalisch liegt, an der Bühnenkonstruktion, die einrostet oder am Staub, der sich auf den Simsen absetzt …
Ist die Elbphilharmonie nicht ohnehin ein gutes Beispiel dafür, dass der Erfolg eines neuen Konzertsaals gar nicht von der Akustik abhängt?
Bei keinem Konzerthaus der Welt kommt es nur auf die Akustik an. Die wenigsten Leute im Publikum hören, wenn wir ehrlich sind, überhaupt den Unterschied. Akustik ist ein wesentliches Element eines Hauses, aber bei Weitem nicht das einzige. Es geht auch um die Architektur, die Optik des Saals oder die Aufenthaltsqualität in den Foyers. Es gibt gut klingende Säle aus den 1960er und 1970er Jahren, die aber mit einem Multifunktionsgedanken gebaut wurden, und die wir heute überhaupt nicht mehr ansprechend finden.

Warum hält man eigentlich an dem Wunsch einer akustischen ›One size fits all‹-Lösung fest? Warum arbeiten klassische Konzertsäle nicht mit Lautsprechersystemen, um den Klang zu gestalten? Es kann ja gar nicht gehen, dass ein Saal für alle Stile und Genres akustisch perfekt ist.
Das kann nicht gehen, so ist es. Die Elbphilharmonie ist immer noch ein sehr traditioneller Saal in dem Sinne, dass er nicht variabel ist. Stockhausens Gruppen können wir etwa nicht aufführen, und man hat sich bei der Konzeption auch nicht überlegt, dass Video heute eine große Rolle spielt. Wenn ich einen neuen Konzertsaal designen würde, würde ich wahrscheinlich darüber nachdenken, wie ich sehr viel leichter eine visuelle Ebene hinter oder über der Bühne schaffen kann, als wir es hier können. Säle elektroakustisch zu verbessern, wie es in vielen Theatern und auch Opernhäusern gang und gäbe ist, ist für Konzerthäuser immer noch ein Tabu, nach dem Motto: ›Der Saal muss alles von alleine können.‹
War der eigentliche Tiefpunkt der letzten fünf Jahre nicht das G20-Treffen 2017? Es gibt dieses Live-Video von N24, wo man auf der linken Seite die Gewalt auf der Schanze sieht, während sich rechts Merkel, Trump, Putin und Co. in der Elbphilharmonie Beethovens Neunte anhören.
Jein, Trump will man tatsächlich nicht im Haus haben und die Verantwortlichen hatten sich ein bisschen verkalkuliert, was die Ausmaße der Proteste in der Stadt anging. Aber das gehört halt jetzt auch zur Geschichte des Gebäudes. Durch unsere etwas problematische Entstehungsgeschichte haben wir vielleicht auch eine dickere Haut. Die Elbphilharmonie war vor der Fertigstellung jahrelang der Skandal du jour. Jeden einzelnen Tag hast du die Zeitungen aufgemacht und es war drei Seiten Elbphilharmonie-Skandal drin. Vielleicht liegt es daran, dass es mich nicht so schockiert hat, wenn die Elbphilharmonie mal in einem weniger guten Licht gezeigt wurde.
Sie sind täglich im Haus unterwegs. Welche Dinge ärgern und freuen sie immer noch am meisten?
Was mich genuin freut ist, dass sehr viele kleine Ärgernisse aus dem Weg geräumt sind, auch wenn es nicht immer so schnell gegangen ist, wie ich es gerne gehabt hätte. Ich habe so Steckenpferde wie die Beleuchtung auf der Bühne. Ich finde, dass auch ein klassisches Konzert gut eingeleuchtet sein muss. Das war am Anfang ganz schrecklich, inzwischen läuft es schon viel besser. Was mich immer noch ärgert, ist die Schaltung der Lifte zum Parkhaus, dass es Staus gibt, wenn man nach einem Konzert zurück in die Garage will. Die ganze Erschließung des Hauses ist schwierig, weil sie anders geplant war als sie dann realisiert worden ist. Jetzt wäre es mir lieber, wir hätten gar kein Parkhaus und dafür dort Proberäume oder Studios. Aber wenn du schon eins hast, willst du auch, dass deine Besucher schnell dorthin kommen. Mich ärgert alles, was Kunden nachhaltig den Besuch verleiden kann, dazu gehören auch solche Dinge wie der Taxistandplatz vorm Haus, wo bis heute eigentlich nur zwei Taxis legal stehen können.
Was ist Ihr Lieblingsort?
Außerhalb des Saales liebe ich diese 3D-Landschaft der Foyers, wo man über sechs Stockwerke so eine geometrisch nicht nachvollziehbare Verfaltung der Balustraden sieht. Das finde ich immer noch einen der architektonischen Geniestreiche. Es ist, glaube ich, ein Glücksfall, dass sich die Architekten bei der Elbphilharmonie eben nicht nur, wie es oft bei Prestigebauwerken der Fall ist, auf das Äußere fokussiert haben, sondern sich mit gleichem Ehrgeiz um jedes Detail gekümmert haben, egal ob das die Damentoilette im 15. OG oder eben die Foyers sind. Das macht sehr viel aus. Wenn die Besucher sich dem Gebäude nähern, dann über die Tube, die Plaza und das Foyer in den Saal gelangen, sind sie völlig anders drauf und viel offener für das, was da musikalisch passiert.
Wir hatten gerade ein Hanns-Eisler-Wochenende mit drei Aufführungen vor vollem Haus. Da saßen sicher nicht nur Eisler-Fans drin, sondern auch viele, die einfach gekommen sind, weil es noch Tickets gab. Aber das Erlebnis des ganzen Gebäudes, bis hin zum Saal, lässt sie viel neugieriger und zugänglicher sein als in anderen Konzerthäusern, wo sie vielleicht nach zehn Minuten sagen würden: ›Was ist das? Wir gehen wieder.‹

Wobei es solche Konzerte auch gab, bei denen viele nach zehn Minuten gegangen sind.
Ja natürlich, das ist aber genau dreimal passiert, von mittlerweile über 1.600 Konzerten im Großen Saal − und ich kann es mir trotzdem bis heute anhören. Das waren alles Konzerte, bei denen vom Veranstalter Busse mit Touristen herangekarrt wurden, denen vorher niemand gesagt hat, dass eine Mahler-Sinfonie 90 Minuten dauert und man zwischendurch nicht pinkeln gehen kann. Es ist auch vorgekommen, dass den Gästen nicht einmal gesagt wurde, dass da ein Jazzkonzert stattfindet.
Als ausgebildeter Software-Ingenieur sind Sie ein Quereinsteiger in die Klassikwelt. Wurden Sie wegen des fehlenden Musikstudiums mal schief angeguckt?
Kein einziges Mal, im Gegenteil. Ich habe mich immer gut durchgeschummelt und oft den Eindruck gemacht, dass ich mich besser auskenne, als ich es eigentlich tue. [lacht]
Wie ist der Intendantenjob eigentlich vereinbar mit dem Familienleben? Sie müssen fast jeden Abend ins Konzert. Wollen Ihre drei Töchter ihren Vater nicht auch mal zum Abendessen da haben?
Jein, weil die mich nicht anders kennengelernt haben. Ich habe meine erste Tochter bekommen, als ich Intendant des Wiener Konzerthauses geworden bin. Das heißt: Von Anfang an war meine Familie auf meinem Arbeitsrhythmus gebaut. Der Ausgleich für den fehlenden Papi am Abend war, dass ich in der Anfangsphase, als die Kinder klein waren, regelmäßig zum Mittag nach Hause gekommen bin. Statt nach dem Konzert lang mit den Künstlern auszugehen, habe ich sie nach der Vormittagsprobe mit nach Hause genommen und sie saßen da glücklich vorm Kartoffelbrei meiner Kinder und fanden das viel toller als in irgendein Sternerestaurant zu gehen. Und ich hatte immer lange Sommerferien. Wenn ich dann zuhause bin, bin ich auch ganz zu Hause. Mittlerweile sind sie alle erwachsen, meine jüngste Tochter hat gerade Abi gemacht. Aber zwischen Elbphilharmonie und Familie blieb nicht viel Zeit für andere Hobbies.
Sie können nach dem abendlichen Konzert nicht einfach mit den Eindrücken der Musik nach Hause gehen, sondern müssen danach noch Small Talk machen und mit Künstlern essen gehen. Ist das nicht furchtbar anstrengend?
Es geht zunehmend an die Substanz. Früher war das kein Problem, aber inzwischen muss ich es schon dosieren. Ich kann zum Beispiel abends kein Fleisch mehr essen und möglichst keinen Rotwein mehr trinken, weil ich sonst die Stunden nicht schlafen kann, die ich dringend brauche. Heute gehe ich kaum noch aus Pflichtgefühl mit Künstlern essen, sondern nur mit denjenigen, mit denen es auch wirklich Spaß macht, wenn es etwas Wichtiges zu sprechen gibt.
Letzte Frage: Nennen Sie die Elphi eigentlich Elphi?
Ich habe mich lange dagegen gewehrt, aber ich habe meinen Frieden damit gemacht.
Das Gespräch entstand im Dezember 2021 für das Online-Musikmagazin VAN, wo es in voller Länge nachzulesen ist.
Liebens Lieblingsorte
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