Inderin und Weltbürgerin, virtuose klassische Musikerin und Songwriterin, Verwurzelte und Globale: Anoushka Shankar hat viele Gesichter. Es gibt im frühen 21. Jahrhundert kaum eine Persönlichkeit, die in der Musik so elegant und spannend zwischen Erdteilen und Genres vermittelt. Damit knüpft sie an ihren Vater Ravi Shankar an, der ihr erster prägender Leitstern für die Sitar war – und geht doch ganz andere Wege:
»Ich fühle mich der Lehre meines Vaters auf einer persönlichen Ebene immer noch verpflichtet. Doch durch seine Musik zieht sich ein ganz anderer roter Faden: Auch im größten kreativen Freiraum blieb er immer im Bezirk der Klassik Indiens. Jetzt ist die Zeit eine andere: Es geht um einen Dialog von beiden Seiten.«
-
Wer war Ravi Shankar?
Der Sitar-Meister (1920–2012) war einer der bedeutendsten indischen Musiker des 20. Jahrhunderts. Er war der Erste, der das Spiel auf der indischen Langhalslaute in die westliche Welt trug und eine ganze Generation von Musikern inspirierte, darunter Bands wie die Beatles und klassische Musiker wie Yehudi Menuhin. Neben Anoushka Shankar ist auch die Sängerin Norah Jones eine Tochter Ravi Shankars.

Anoushka Shankar: Zwei Welten versöhnen
Anoushka Shankar, Jahrgang 1981, ist eine »Digital Native«, eine Kosmopolitin, die die globalisierten Voraussetzungen des 21. Jahrhunderts kreativ in Musik kleidet. »Ich bin ja ebenso in der westlichen Welt aufgewachsen, Indien war nur mein zweites Zuhause«, stellt sie klar. »Meine Basis ist zwar die indische klassische Musik, doch sie wurde mir im Westen vermittelt. Und mit diesem doppelten Hintergrund versuche ich, beide Welten in meinem Leben miteinander zu versöhnen und das auch in meiner Kunst auszudrücken.«
Anoushka Shankar: Lasya
Ihr Potenzial der Erneuerung machte sich schon bemerkbar, als sie als Heranwachsende an der Seite Ravis auf der Bühne stand. Ganz natürlich adaptierte sie in der Familienlinie ihr Instrument, die nordindische Sitar, eine Langhalslaute mit bis zu 21 Saiten und das wohl prominenteste Instrument der hindustanischen Klassik.
Und beschritt zugleich eigene Pfade: Zwar legte sie weiterhin großen Wert auf die Ausführung verzwickter, rasant gespielter Melodieläufe. Parallel dazu aber entwickelte Anoushka Shankar ein besonderes Faible für die tiefen Saiten der Sitar, ergänzt um wirkungsvolle Rhythmen der rechten Hand. So formte sie die Klangsprache, die ihr Spiel bis heute kennzeichnet.

»Vor jeder Kultur habe ich großen Respekt. Ich will keine bloß als Verzierung benutzen.«
Anoushka Shankar
Nach der Veröffentlichung erster Werke im Ton indischer Klassik hat Anoushka Shankar ihre Facetten auf den Folgealben in fast jeder vorstellbaren stilistischen Richtung ausgeweitet. »Vor jeder Kultur habe ich großen Respekt, daher will ich keine von ihnen einfach als Verzierung für meine eigene Musik benutzen«, so ihr Credo.
»Wenn ich ein Brückenprojekt hin zu anderen musikalischen Stilen unternehme, dann will ich den indischen Anteil so respektvoll wie möglich beibehalten. Und diesen Respekt möchte ich auch anderen Musikstilen entgegenbringen. Etwas Neues bewusst in die Musik einzuflechten ist etwas völlig anderes, als zu kombinieren, ohne genau darüber Bescheid zu wissen.«
Die Projekte der letzten fünfzehn Jahre zeigen Anoushka Shankar als eine buchstäblich weltumspannende Künstlerin – von musikalischen Begegnungen mit Popstars wie Sting oder ihrer Halbschwester Norah Jones bis hin zu Alben mit andalusischen Flamenco-Ensembles oder Londoner DJ- und Electronica-Produzenten. Und auch die Riege an Künstlerinnen und musikalische Wegbegleitern, die sie im November 2021 zu ihrem »Reflektor«-Wochenende in der Elbphilharmonie einladen wird, spiegelt diese enorme Bandbreite.
Text: Stefan Franzen, Stand: 13.11.2020