Iveta Apkalna

Aber-Glauben?

Was treibt Musiker vorm Auftritt um? Über Glücksbringer, Rituale und andere Gepflogenheiten.

Vor dem Auftritt dreimal über die linke Schulter spucken? Nie mit Hut und Mantel auf die Bühne? Musiker sind nicht so abergläubisch wie Schauspieler – aber auch sie haben Rituale vor dem Konzert.

Patricia Kopatchinskaja: Gen Himmel horchen

Patricia Kopatchinskaja geht bei jedem Auftritt aufs Ganze und darüber hinaus. Das Publikum liebt ihre kompromisslose Hingabe an die Musik; die Feuilletons führen die Geigerin unter »Naturgewalt« und »Geigenhexe«. Diesem Anspruch dauernd gerecht zu werden ist anstrengend. »Jedes Stück ist wie ein fragiles Kerzenlicht. Ich gehe mit ihm den Leidensweg, schöpfe Hoffnung, nicht zu versagen, muss die Essenz spüren und wissen, dass die Engel mit mir sind – und es dann selbst reden lassen.« In ihrem Geigenkasten trägt sie kleine Helfer mit sich: eine Brosche mit der Inschrift »shit happens«; einen Zettel, auf dem steht »attachez votre char à un astre« (»Spann deinen Wagen an einen Stern«). »Das erinnert mich, immer gen Himmel zu horchen«, erklärt sie. Und früher wohnte im Koffer auch noch ein kleiner hölzerner Angsthase, doch der verschwand eines Tages spurlos.

Patricia Kopatchinskaja
Patricia Kopatchinskaja © Patricia Kopatchinskaja

Patricia Kopatchinskaja ist Elbphilharmonie-Portraitkünstlerin in der Saison 2020-21.

Simone Kermes: Vom Dampfbad in die Arena

»Man hofft, nicht zu versagen, zu überleben – ein bisschen wie vor einer Hinrichtung.«

Simone Kermes

»Der Applaus des Publikums ist alles – unser Leben, unser Erfolg«, bekennt Simone Kermes. Auch für eine »Lady Gaga der Klassik« oder »Ba-Rock-Röhre«, wie man sie in Fankreisen liebevoll nennt, ist gute Vorbereitung die halbe Miete. Um für die entscheidenden Stunden im Konzert gewappnet zu sein, nimmt die Sopranistin schon am Vortag den Flieger und gönnt ihren von der Druckluft strapazierten Ohren über Nacht eine Pause. Morgens geht’s ins Dampfbad, das macht die Stimme geschmeidig. Und kurz vorm Auftritt schwört sie sich mit ihrem treuen Orchester auf den Abend ein. »Wir fassen uns an den Händen, wünschen uns, dem Publikum viel Liebe und Energie schenken zu können. Im Grunde feuern wir einander an, aber es ist auch eine Art Gebet.« Dann tritt »La Kermes« in die »Arena«, wie sie es nennt. »Das ist schon verrückt: Man hofft, nicht zu versagen, zu überleben – ein bisschen wie vor einer Hinrichtung. Aber Lampenfieber ist wichtig – ohne wird der Abend nicht Besonders.«

Simone Kermes
Simone Kermes © Simone Kermes

Yaron Herman: Sicherheitshalber Hummus

Nur die Ruhe, denkt sich Jazz-Pianist Yaron Herman, der schon als »Reflektor«-Künstler über mehrere Tage die Elbphilharmonie bespielte. Vor Konzerten legt er oft ein Schläfchen ein oder meditiert. Kein Lärm, keine Ablenkung, das Smartphone bleibt außer Reichweite. So leert der französisch-israelische Musiker sein Bewusstsein, um sich dann mit einer möglichst offenen Haltung ans Klavier zu setzen. Alles darf und soll passieren in Hermans Spiel, das aus dem Moment heraus entsteht. Drei Töne reichen ihm schon, um eine unendliche Geschichte zu erzählen, in Sekundbruchteilen Muster, Formen, eine Stimmung zu erspüren. Die Inspiration kommt dabei meist von selbst – zur Sicherheit isst er aber vorher noch schnell eine Portion Hummus. »Dann funktioniert es noch besser!«

Yaron Herman
Yaron Herman © Yaron Herman / Facebook

Dies ist ein Ausschnitt aus dem Elbphilharmonie Magazin (2/2020), das dreimal pro Jahr erscheint.

Erlend Øye: Hummeln im Hintern

»Ich kenne nicht eine einzige Einsing- oder Aufwärmübungen für die Stimme!«

Erlend Øye

»Ich versuche, mich vor Auftritten möglichst zu langweilen«, gesteht der norwegische Sänger und Gitarrist Erlend Øye. Seine Theorie: Je länger er backstage mit den Hufen scharrt, desto größer ist später der Energieschub auf der Bühne. Doch ob mit seinem Indie-Folk-Duo Kings of Convenience, im Indie-Pop-Kollektiv The Whitest Boy Alive oder mit seinem jüngsten Italo-Pop-Projekt auf Sizilien: Spezielle Vorkehrungen trifft er nie. »Ich kenne nicht eine einzige Einsing- oder Aufwärmübungen für die Stimme! Dabei vergeht kein Tag, ohne dass mir jemand erzählt, was angeblich Unglück bringt. Ich sage: Unglück bringen nur diese Leute!« So setzt Øye lieber auf reale Maskottchen wie seinen Tontechniker Trebbi, der ihn seit 19 Jahren begleitet.

Erlend Øye
Erlend Øye © Erlend Øye

Iveta Apkalna: Heimat im Herzen

»Aaa-tmen, atmen«. Iveta Apkalna dehnt die Worte bedeutungsvoll. »Das ist das Letzte, was ich vor dem Auftritt tue.« Dann nimmt die Titularorganistin der Elbphilharmonie am mobilen Spieltisch inmitten des Großen Saals Platz. Ihre Hand umschließt dabei ein besticktes Beutelchen, dunkelrot wie die Flagge ihrer lettischen Heimat. »Da sind drei Glücksbringer von wichtigen Menschen drin. Seit Jahrzehnten nehme ich es mit auf die Bühne, das gibt mir ein Gefühl von Zuhause.« Aus der Heimat stammen auch die mattgoldenen, mit Riemchen verstärkten Orgelschuhe – eine Spezialanfertigung ihres Schuhmachers aus Riga. Schließlich muss Apkalna mit den Füßen ebenso virtuos und geschmeidig über die Pedale gleiten wie mit den Händen über die Manuale. »Das Schuhe-Anziehen ist mein wichtigstes Ritual: erst pflegen, vorbereiten, und sobald ich hineinschlüpfe, ist klar: Es geht los!«

Iveta Apkalna
Iveta Apkalna © Julian Conrad

Alan Gilbert: Mit Kohldampf aufs Podest

Mit Glücksbringern kann NDR-Chefdirigent Alan Gilbert wenig anfangen – solange ihm keiner das Mittagsschläfchen abspenstig macht, läuft der Rest von allein. Stattdessen packt der gebürtige New Yorker Kontaktlinsen, Partitur und frische Socken in seinen Koffer, bevor er sich zum Konzert aufmacht. Und auf eines achtet er noch vor jedem Gang aufs Podest: »Nichts Schweres essen, das macht träge.« Aber Obacht: »Dirigieren auf leeren Magen ist auch nicht gut. Ich habe mich schon dabei erwischt, wie ich während des Konzerts darüber nachdachte, was ich als Erstes esse, wenn ich von der Bühne runterkomme.«

Alan Gilbert
Alan Gilbert © Peter Hundert

Claire Huangci: Ruhig Blut

»Ich bin eine Nachteule«, bekennt Claire Huangci, »aber vor Konzerten gönne ich mir eine gute Nacht Schlaf, am besten acht Stunden.« Ansonsten pflegt die US-amerikanische Pianistin nur ein einziges Ritual: den Konzerttag so normal und unaufgeregt wie möglich dahinplätschern zu lassen. Sie übt nicht zu viel und telefoniert mit Freunden aus der Heimat – von denen einige nicht die blasseste Ahnung von Musik haben. »Das erdet«, sagt Huangci.

Claire Huangci
Claire Huangci © Claire Huangci

Albrecht Mayer: Die Familie im Gepäck

»Früher habe ich habe mich oft gefragt, warum manche Musiker vor dem Konzert noch so viele Leute um sich haben«, erzählt der Oboist Albrecht Mayer. Heute, nach 30 Jahren Solokarriere, weiß er es besser: »Beschäftigung lenkt ab. Am liebsten habe ich meine Familie bis zur letzten Minute um mich, so komme ich nicht ins Grübeln.«

An Konzerttagen nutzt er den Vormittag zum Üben: »Töne aushalten, meine Stücke und Kadenzen noch mal durchspielen. Ich möchte dem Instrument so nah wie möglich kommen.« Spätestens nachmittags ist aber Schluss, dann erholt sich Mayer bei einer Tasse Earl Grey. »Der gibt einem ein sehr freies Körpergefühl. Selbst nach einem Liter können Sie noch wunderbar spielen. Wenn Sie einen Liter Kaffee trinken, kriegen Sie die Finger nicht mehr aufs Instrument.«

Albrecht Mayer
Albrecht Mayer © Ralph Mecke

Text: Laura Etspüler, Stand: 12.5.2020

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