John Adams

Music as trauma medicine

What can musical monuments achieve that physical ones can’t? An essay by the American composer John Adams.

Last year, Jeremy Eichler, chief classical-music critic at the Boston Globe, published a highly acclaimed book: »Time’s Echo – The Second World War, the Holocaust, and the Music of Remembrance«. It deals with the culture of remembrance in music and four key works from the mid-20th century. The book will also be published in German this spring under the title »Das Echo der Zeit«. Alan Gilbert, chief conductor of the NDR Elbphilharmonie Orchestra, had the idea of inviting the author to Hamburg for a discussion concert as part of the 2024 Hamburg International Music Festival, the motto of which is »War and Peace«.

In December 2023, famous US composer John Adams (»Nixon In China«) wrote a remarkable essay for The New Yorker magazine to mark the publication of Eichler’s book, which we are publishing here exclusively in German translation. Two of the four works mentioned will be performed at the International Music Festival - Schönberg’s »A Survivor from Warsaw« and Benjamin Britten’s »War Requiem«. A work by John Adams, »The Wound Dresser«, is also part of the festival programme.

Discussion concert with Jeremy Eichler :2 May 2024

As part of the Hamburg International Music Festival, Jeremy Eichler talks to conductor Alan Gilbert about his book and the power of music in the culture of remembrance. In keeping with the theme, members of the NDR Elbphilharmonie Orchestra present the string septet version of Richard Strauss’s famous »Metamorphoses«.

Text: John Adams, 4.12.2023

This German translation of the text by John Adams is by Tom R. Schulz with the kind permission of the author. You can read the original English text published in »The New Yorker« here.

 

GERMAN VERSION

Hatte Robert Musil recht mit seiner sardonischen Bemerkung, es gebe nichts auf der Welt, was so unsichtbar sei wie Denkmäler? Ehrenmale, Triumphbögen, bronzene Abbildungen, eingefroren in Raum und Zeit: Wir laufen an ihnen vorbei, nehmen sie kaum zur Kenntnis. Sie mögen denkwürdige Ereignisse in Erinnerung rufen, die hohe menschliche Opfer forderten, aber als physische Reliquien berühren sie uns nur selten. Ab und an kann uns die stille Anwesenheit von Stein und Licht bewegen: etwa Maya Lins Denkmal für die Vietnam-Veteranen, Daniel Libeskinds Jüdisches Museum in Berlin oder das Lincoln Memorial mit David Chester Frenchs Bildnis des abgeklärt dasitzenden Präsidenten. Solche Werke aber sind in der Minderheit. Die meisten Denkmale verfehlen ihr Ziel, uns zur Besinnung anzuhalten. Wie Musil in seinem »Nachlass zu Lebzeiten« (1936) schreibt, könnte ein Teil des Problems gerade in der Dauerhaftigkeit des Denkmals liegen: »Alles Beständige büßt seine Eindruckskraft ein.«

Musil schrieb über physische Denkmale, aber es gibt noch andere Arten davon, wie Jeremy Eichler in seinem Buch »Das Echo der Zeit« zeigt, einer Untersuchung darüber, inwiefern Musik als Vehikel für das kollektive Gedächtnis dienen kann. »Klang«, schreibt Eichler, »ist als Medium zu unwillkürlich, und er durchdringt die Sinne zu sehr, als dass er je so unbemerkt zum Inventar gehören könnte wie Stein. Wenn Musik den Raum flutet, kann man sich nirgends verstecken.«

Jeremy Eichler
Jeremy Eichler © Tom Kates

Vier Klangdenkmäler

Sein auf gewichtige Weise lyrisches Buch ist ein Werk von umfassender historischer Gelehrsamkeit und voller bestechender musikalischer Einsichten. Und Eichler, Chefkritiker für klassische Musik des »Boston Globe«, hält mit seiner Mission nicht hinterm Berg, nämlich zu zeigen, dass das, was Thomas Mann die »ausgesprochene Unausgesprochenheit« der Musik genannt hat, ihr die einzigartige Kraft verleiht, sich auf eine Weise dem Gedächtnis einzuprägen, die unsere Emotionen anspricht. Eichler belegt das anhand einer genauen Untersuchung von vier Schlüsselwerken aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, die den Versuch unternahmen, sich mit der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs auseinanderzusetzen: die »Metamorphosen« von Richard Strauss, Arnold Schönbergs »Ein Überlebender aus Warschau«, Dmitri Schostakowitschs 13. Sinfonie und Benjamin Brittens »War Requiem«. Jedes von ihnen, behauptet Eichler, fungiere als »Erinnerungsträger in einer Welt nach dem Holocaust«. Sich seinem Gegenstand »mit den Ohren eines Kritikers und dem Werkzeug eines Historikers« (Eichler) nähernd, zeichnet er im Detail die Entstehung und die Rezeption dieser Werke nach, die jeweiligen Kriegserfahrungen ihrer Komponisten und den größeren historischen Zusammenhang des Krieges und des Holocausts.

Jedes dieser »intensiv aufgeladenen Klangdenkmäler«, schreibt Eichler, sei »ein Prisma, durch das wir uns an das >erinnern<, was verloren wurde.« Solch eine Zuschreibung lastet schwer auf jedem Musikstück, ganz zu schweigen von der Last, die sie den Zuhörenden aufbürdet. Für viele Menschen stellen nicht-erzählende Werke wie etwa Bachs »Goldberg-Variationen« oder ein Streichquartett von Beethoven gerade in ihrer Abstraktion den Inbegriff purer musikalischer Bedeutung dar. Für sie erschiene eine solche Art des musikalischen Gedenkwesens bestimmt unangenehm befrachtet – Kunst mit einer Agenda, Kunst, die außermusikalischer Hinweise bedarf, um Bedeutung zu erlangen. Nicht jeder möchte, dass ein Musikerlebnis Bilder von Gewalt und Trauer hervorruft. Eichler scheint sich dessen bewusst zu sein, denn an einer Stelle fragt er: »Soll Völkermord wirklich das Thema sein, wenn man zum Ausgehen in die Carnegie Hall will?«

Ein Werk zu Ehren der Opfer vom 11. September :John Adams über seine Arbeit an »On the Transmigration of Souls«

Im Jahr 2001, kurz nach den Anschlägen vom 11. September, sah ich mich mit ähnlichen Fragen konfrontiert, als das New York Philharmonic mich um ein Werk zu Ehren der Opfer bat, die im World Trade Center ums Leben gekommen waren. Ich zögerte, den Auftrag anzunehmen. Es schien zu rasch: Wie sollte man Musik erschaffen für ein gemeinsames Gedenken an ein kollektives Trauma, mit dessen Verarbeitung die Nation noch vollauf beschäftigt war? Gleichzeitig fühle es sich falsch an abzulehnen. Gewiss sollte ein Komponist imstande sein, auf ein öffentliches Bedürfnis zu antworten; wenn Feuerwehrleute und Helfer vor Ort ihr Leben am Ground Zero aufs Spiel setzten, wäre das Mindeste, das ich tun könnte, den Auftrag anzunehmen.

Die Kompositionsarbeit am daraus resultierenden Werk »On the Transmigration of Souls« war qualvoll, nicht nur deshalb, weil ich mich über mehrere Monate hinweg immer wieder mit trauernden Familien traf oder Berichte von ihnen durchlas, sondern auch, weil es mir nahezu unmöglich schien, mich auf eine Stimme für das Stück festzulegen.

Die Medien recycelten immer noch hektisch Bilder von der Katastrophe bis zu dem Punkt, an dem jede wahre Bedeutung aus ihnen gewichen schien. Am Ende schuf ich etwas, das ich »Gedächtnisraum« nannte – ein überwiegend ruhiges Stück für Orchester und einen aus Erwachsenen und Kindern gemischten Chor, in das zuvor aufgenommene Klänge aus der Stadt und die gemurmelte Rezitation von Namen und Sätzen von Schildern vermisster Personen hineingearbeitet waren. Das Stück wurde am 19. September 2002 uraufgeführt, fast auf den Tag genau ein Jahr nach den Ereignissen, die es hervorgerufen hatten, kombiniert mit Beethovens Neunter Sinfonie, dem berühmtesten aller Narrative der Aufklärung, das seine Zuhörer vom Moll-Kampf zum Dur-Sieg führt.

Strauss, Schönberg, Britten und Schostakowitsch :Vier Komponisten erleben den Zweiten Weltkrieg

Solchen Siegesjubel gibt es in den vier Werken, die Eichler untersucht, nicht. Zwei davon beziehen sich unmittelbar auf den Holocaust: Schönbergs »Ein Überlebender aus Warschau«, ein schonungsloses, drastisches Stück für einen Erzähler, Männerchor und Orchester, handelt von den Erfahrungen eines Überlebenden aus dem Warschauer Ghetto in einem Konzentrationslager. Schostakowitschs 13. Sinfonie beginnt mit einer Passage aus Jewgenij Jewtuschenkos Gedicht »Babi Jar« im Gedenken an das Massaker, das die Nazis 1941 unter Juden in Kyjiw anrichteten. Strauss’ »Metamorphosen« für 23 Solostreicher ist das einzige der vier Stücke, das keinen Text enthält, zugleich ist es das innerlichste; es entfaltet sich wie eine halbstündige ununterbrochene Klage. Brittens »War Requiem« schließlich, das bei weitem längste der vier, ist eine gewaltige Kantate der öffentlichen Trauer.

Es fällt schwer, sich heute einen Komponisten klassischer Musik vorzustellen, der über dasselbe Maß an Aufmerksamkeit gebietet, dessen sich diese vier erfreuen konnten. Schostakowitsch war erst 19, als seine Erste Sinfonie ihn berühmt machte. Von diesem Zeitpunkt an waren die Uraufführungen seiner groß dimensionierten Werke stets besondere Ereignisse in der Sowjetunion. Britten schürfte wohlüberlegt an einer tief liegenden Mine des Englischseins und wurde zu einem der beliebtesten Komponisten seines Landes. Und Strauss galt in Deutschland und Österreich als Nachfahr einer großen Ahnenreihe, die bis Bach zurückreicht – er verkörperte das, was Eichler die »frappierend überbestimmte Beziehung zwischen den Deutschen und der Musik« nennt, in Reinkultur. Nur Schönberg, dessen atonale Musik auf ewig mit den Konventionen über Kreuz lag, blieb ein Sonderfall. Dennoch war es paradoxerweise gerade er und keiner der drei anderen, der für viele der Avantgarde-Komponisten der Nachkriegsgeneration als Vorbild in Erscheinung trat.

Arnold Schönberg / Bild von Richard Gerstl
Arnold Schönberg / Bild von Richard Gerstl © Wikimedia Commons

Die Geschichte von Strauss ist diejenige, bei deren Betrachtung einem am unwohlsten ist. Nachdem er im späten 19. Jahrhundert als noch junger Mann zu Ruhm gelangt war, trug er einen Nietzscheanischen Skeptizismus gegenüber jenen hochtrabenden Bildungsidealen zur Schau, die in Kunst und Philosophie des 19. Jahrhunderts in Deutschland im Schwange waren. Im Gegensatz zu den spirituell sinnsuchenden sinfonischen Achterbahnfahrten seines Zeitgenossen Gustav Mahler waren Strauss’ Werke das Produkt einer Künstlerpersönlichkeit, die zwischen Ironie und bourgeoiser Sentimentalität wechselte und für wilhelminische Gemüter wie geschaffen schien. Er konnte schockieren und aufregen, etwa mit den beiden blutrünstigen Opern »Salome« (1905) und »Elektra« (1909), aber es war die vornehm auf alt gemachte Romantik des »Rosenkavaliers« (1911) mit ihren trällernden Walzern und sinnlichen Frauenrollen, die seine Popularität auf die Spitze trieb.

Strauss: Metamorphosen :»Eine Totenmaske aus Klang«

Bei Anbruch des Nationalsozialismus war Strauss einer jener zahlreichen Vertreter der Kultur, die mit den Nazis einen komplexen Tanz vollführten. Er hatte jüdische Angehörige (die Familie seiner Schwiegertochter und seine Enkel), die er schützen wollte, ebenso jüdische Freunde und Kollegen. Möglicherweise hielt er sich selbst für unpolitisch, aber vor Hitler, der ­– so verstörend es ist, sich das klarzumachen – wahrscheinlich das musikalisch gebildetste Staatsoberhaupt aller Zeiten war, gab es kein Entkommen. Der Führer kannte seinen Beethoven und seinen Wagner, und er bewahrte sich einen nahezu jungenhaften Enthusiasmus gegenüber Opernproduktionen, die ihn in seiner Jugend begeistert hatten. Deshalb war für es Strauss keine Option, die ihm 1933 angetragene Leitung der neu geschaffenen Reichsmusikkammer, die Joseph Goebbels als Mittel zur Säuberung der deutschen Musik vor »kosmopolitischen« (also jüdischen) Einflüssen eingesetzt hatte, abzulehnen.

Daraus resultierte eine peinliche Abfolge von Gesten auf Seiten von Strauss, vom Trivialen ­– der Komposition des Lieds »Das Bächlein«, das er Goebbels widmete – bis zum Abscheulichen. So erklärte er sich bereit, ein Konzert der Berliner Philharmoniker zu dirigieren, nachdem der jüdische Dirigent Bruno Walter entlassen worden war, und sprang in Bayreuth ein, als Arturo Toscanini, ein überzeugter Antifaschist, es ablehnte, dort zu dirigieren. Aber Strauss’ Versuche, Kunst und Leben voneinander zu trennen, waren doch zum Scheitern verurteilt. Nicht einmal Deutschlands größter Komponist vermochte zu verhindern, dass seine jüdische Schwiegertochter und seine Enkel drangsaliert wurden und deren Großmutter im KZ Theresienstadt umkam.

Richard Strauss
Richard Strauss © Library of Congress / Wikimedia

Strauss vollendete die »Metamorphosen« in den letzten Kriegsmonaten. Ungewöhnlich für einen Komponisten, der seinen frühen Ruhm so ausgesprochen bildhaften Stücken wie »Don Quichote« und »Till Eulenspiegels lustige Streiche« verdankte, bilden sie nichts Konkretes ab. Wenn es darin »um« etwas geht, dann um reine Emotion, tief empfunden, mit langen, schmerzerfüllten melodischen Linien und umherstreichenden, unentwegt ihre Gestalt wandelnden Harmonien. Viel Tinte floss in Versuche, eine Geschichte hinter dieser Musik zu imaginieren. Ihre unmissverständlich privaten Emotionen, verbunden mit einem verrätselten Zitat aus dem Trauermarsch aus Beethovens »Eroica«, lassen es geradezu unmöglich erscheinen, keine Verbindung zu dem großen Unheil herzustellen, das gegen Ende seines Lebens über Strauss zusammenschlug. Eichler nennt das Stück eine »Totenmaske aus Klang«, aber es wäre auch eine weniger düstre Lesart denkbar. Online ist es eine Interpretation des Werks vom Norwegischen Kammerorchester zu sehen, bei der die Musiker, barfuß und auswendig spielend, ein Gefühl der Erneuerung erzeugen – vielleicht von einer der Seelen aus einem Mythos von Ovid, die nach Wiedergeburt strebt.

Arnold Schönberg: Ein Überlebender aus Warschau

Zwischen der Vollendung der »Metamorphosen« und des »Überlebenden aus Warschau« liegen zwei Jahre. Beide Komponisten waren zu der Zeit bereits alte Männer. Während die »Metamorphosen« ein Werk intimen Trauerns sind, ist »Ein Überlebender aus Warschau« ein Schreckensschrei. Mit seinen etwa sieben Minuten Dauer ist das Werk sowohl musikalisch als auch dramatisch in hohem Maße verdichtet. Es verhandelt einen kurzen, verstörend drastischen Text, der auf Berichten von Holocaust-Überlebenden basiert und eine grauenhafte Szene beschreibt, in der Juden bedroht, misshandelt und auf die Gaskammer vorbereitet werden. Gegen Ende des Stücks erheben sich die Juden in Auflehnung und singen einstimmig das hebräische Gebet »Shema Yisrael«. Eichler deutet diesen Moment als Metapher für Schönbergs eigenes Leben; als nichtpraktizierender Jude wurde er sich angesichts der drohenden Auslöschung seiner Identität bewusst und reklamierte sie für sich. Es sei ein Werk, schreibt Eichler, das »aktiv Trost versagt oder irgendein oberflächliches Empfinden eines Abschlusses«.

Schönberg emigrierte im selben Jahr nach Amerika wie Thomas Mann, beide verschlug es nach Südkalifornien. Doch während Mann ein Nobelpreisträger mit internationaler Leserschaft war, musste Schönberg sich und seine Familie mit Unterricht durchbringen. »Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass ich für eine bessere Art von Tschaikowsky gehalten würde«, klagte er. Aber seine Musik wurde mit Ausnahme seiner frühen tonalen Werke kaum aufgeführt. Er war durch das Aufkommen des Antisemitismus und durch den Zusammenbruch der deutschen Kultur, die ihm so teuer gewesen war, derart traumatisiert, dass er beschloss, seine Energie darauf zu richten, alle Juden hinter der Idee der Gründung eines neuen Jüdischen Staats zu versammeln.

Theodor W. Adorno in seiner berühmt kritischen Haltung gegenüber allen künstlerischen Repräsentationen des Holocaust machte beim »Überlebenden von Warschau« eine Ausnahme, weil er in dem Werk die Bereitschaft erkannte, sich dem Schlimmsten im menschlichen Verhalten zu stellen. Und konfrontativ ist es allemal, mit seinen rasenden Dissonanzen, kreischenden Instrumentaleffekten und dem wahnsinnigen Gebrüll des Erzählers auf Englisch und Deutsch. Das Stück ist eine der psychologisch schmerzhaftesten künstlerischen Erfahrungen, die ich kenne, und weil seine Gewalt in Gestalt von Klang auf uns kommt, fühlen wir uns davon instinktiv viel stärker bedroht als etwa von Picassos »Guernica«. Dirigenten sind meistens in Verlegenheit, womit sie dieses Werk, wenn sie es überhaupt aufs Programm setzen, kombinieren sollen. Meist landen sie automatisch bei Beethovens Neunter.

Mariss Jansons dirigiert Schönbergs »Ein Überlebender aus Warschau«

Bilden die Stücke von Strauss und Schönberg so etwas wie ein Paar, zwei Schmerzensschreie aus der unmittelbaren Nachwirkung des Krieges heraus, so ist das bei Schostakowitschs 13. Sinfonie und Brittens »War Requiem« nicht anders. Beide stammen aus dem Jahr 1962, weshalb sie unweigerlich einen eher rückblickenden Charakter tragen und bis zu einem gewissen Grad das neu gestalten, woran sie erinnern wollen, wobei im Falle von Schostakowitsch aktiv eine offizielle Version der Ereignisse in Zweifel gezogen wird.

Schostakowitschs gesamtes künstlerisches Leben vollzog sich während der Sowjetära, wobei sein Output von offizieller Seite abwechselnd bejubelt und verdammt wurde. Wie Strauss wurde er häufig in unangenehme Arrangements mit den politischen Umständen hineingenötigt, und 1960 trat er der KPdSU bei, eine kompromittierende Geste, die seine Bewunderer erschütterte. Sofia Gubaidulina, die ihn als junge Komponistin anbetete, erinnerte sich später: »Dass ein Mann wie dieser gebrochen werden konnte, dass unser System imstande war, ein solches Genie zu zertrümmern, darüber kam ich nicht hinweg.« Schlussendlich aber fand sie sich damit ab und sah in Schostakowitsch den »personifizierten Schmerz, den Inbegriff der Tragödie und der Schrecken unserer Zeit«.

Dmitri Schostakowisch
Dmitri Schostakowisch © Wikimedia Commons / Deutsche Fotothek

Dmitri Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 13 »Babi Jar«

Die 13. Sinfonie entstand während des post-stalinistischen Tauwetters unter Nikita Chruschschow, aber sie ärgerte das Regime gewaltig. Schon wie es begann mit den Männerstimmen, die Jewtuschenkos Gedicht im Gedenken an die ermordeten Juden von Babi Jar intonieren:

Über Babi Jar, da steht keinerlei Denkmal.
Ein schroffer Hang – der eine unbehauene Grabstein.
Mir ist angst.
Ich bin alt heute, so alt wie das jüdische Volk.
Ich glaube, ich bin jetzt ein Jude.

Jewtuschenkos Text war erst im Jahr zuvor veröffentlicht worden, also 1961, aber den Gedichte liebenden Russen war er bereits vertraut. Er stellte sich dem sowjetischen Narrativ über das Massaker entgegen, das die Identität der Opfer unterdrückte, weil die Juden nicht herausgehoben sein sollten unter all denen, die »im heroischen Kampf des russischen Volkes« gestorben waren. Jewtuschenko gab unter Drohung der Zensur nach und überarbeitete sein Gedicht. Er strich die Zeile »Ich glaube, ich bin jetzt ein Jude« und ersetzte »Hier hänge ich am Kreuz und sterbe / und trage noch immer das Mal der Nägel« durch »Hier liegen Russen, und Ukrainer / Zusammen mit Juden in derselben Erde«. Enttäuscht von Jewtuschenkos Überarbeitung, weigerte sich Schostakowitsch zunächst, die Musik den politisch annehmbareren Zeilen entsprechend zu ändern.

In Schostakowtischs theatralisch-emphatischem Setting oszilliert die Musik bedrohlich zwischen schwerfälliger Begräbnismühle und verrücktem, mit bitterer Ironie getränkten Tanz. Ich vermag Eichlers Ehrfurcht vor dem Stück nicht recht zu teilen. In all ihrer Ernsthaftigkeit haftet der Anrufung Babi Jars unglückseligerweise etwas Filmmusikalisches an. Weder die sich an die Brust schlagenden Solidaritätsbeteuerungen mit den Juden seitens der Sänger noch die sarkastische Musik, die Bilder »feiner Damen in Spitzenrüschen, die quieken und mir ihre Sonnenschirme ins Gesicht stecken« heraufbeschwören, sind frei von der Aura der Unterhaltung. Ich finde, dass das Stück in genau jene Falle tappt, vor der Adorno warnte, als er über die Kunst und den Holocaust schrieb.

Schostakowitsch: 13. Sinfonie

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Dmitri Schostakowisch
Dmitri Schostakowisch Dmitri Schostakowisch © Wikimedia Commons / Deutsche Fotothek

Benjamin Britten: »War Requiem«

Über Jahrzehnte hinweg wurde die Sinfonie in der Sowjetunion so gut wie nie aufgeführt. Brittens »War Requiem« dagegen entstand in offiziellem Auftrag für die Feier anlässlich des Wiederaufbaus der Kathedrale von Coventry, die 1940 während des Blitzkriegs zerstört worden war. Die Sache hatte aber wegen Brittens wiederholt öffentlich geäußertem Pazifismus und dem Groll, den ihm das eintrug, auch einen persönlichen Aspekt. Mit dem »War Requiem« schuf er ein Werk, das sowohl seine Abscheu gegenüber dem Blutvergießen zum Ausdruck brachte als auch das öffentliche Bedürfnis nach einer großen, einigenden Äußerung nationalen Gedenkens befriedigte. Zur Aufführung des Stücks bedarf es Hunderter von Musikern; in einer körnigen Fernsehübertragung der BBC aus dem Jahr 1964 in der Royal Albert Hall, bei der der Komponist als einer von zwei Dirigenten mitwirkt, sieht es aus wie in einem brechend vollen Fußballstadion. 

Benjamin Britten
Benjamin Britten © Wikimedia Commons

Brittens großartiger Einfall bestand darin, dass er in die herkömmliche Requiemsmesse Texte von Wilfrid Owen einbettete, einem englischen Dichter aus dem Ersten Weltkrieg, der noch wenige Tage vor dem Waffenstillstand 1918 fiel. Owen war, wie Britten, schwul, und seine Werke, die mittlerweile in England verehrt wurden, gaben dem Kriegshass des Komponisten eine machtvolle Stimme. Die Gedichte sind schmerzlich intim, und in Brittens Umgang mit ihnen erzeugen die starken Bilder zerbrochener Körper und der Todesmaschinerie einen verstörenden Kontrast zum feierlichen, geheimnisvollen Latein der Messe.

Brittens »War Requiem«

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Britten and Pears
Britten and Pears Britten and Pears © Britten-Pears Foundation

Eine Lücke im Repertoire

Dies ist möglicherweise ein Grund für etwas, das mich stark beschäftigte, als ich versuchte, den Auftrag des New York Philharmonic zum 11. September zu erfüllen: es gab in Amerika kein zeitgenössisches musikalisches Werk, das ein nationales Trauma ausdrückt. Wir Amerikaner haben anscheinend für jede beliebige Emotion ein passendes Lied parat, aber im unmittelbaren Nachwirken einer Tragödie schien ausschließlich klassische Musik imstande, die Lücke zu füllen. Ich erinnere mich lebhaft an den Nachmittag, als Präsident Kennedy ermordet wurde, weil das Boston Symphony Orchestra, dessen Live-Übertragungen im Radio ich als Teenager hörte, sein geplantes Programm unterbrach, um den Trauermarsch aus Beethovens »Eroica« zu spielen – jenes Stück, das Strauss in seinen »Metamorphosen« zitiert. Nach dem 11. September spielte das New York Philharmonic das Deutsche Requiem von Brahms.

Beide Stücke waren gut gewählt – sie sind lyrisch, nobel und in ihrer stillen Zurücknahme ausgesprochen bewegend. Aber mich trieb es dennoch um, dass die USA, ungeachtet ihres unglaublichen Reichtums an allen Arten von Musik, kein einziges Werk besitzen, das in Umfang und Gehalt dem »War Requiem« oder den »Metamorphosen« vergleichbar wäre. Kurze, intime Stücke gibt es durchaus, etwa Aaron Coplands »Quiet City« oder Samuel Barbers »Adagio for Strings«, beides berührende musikalische Aussagen, formuliert in einem charakteristisch einfachen amerikanischen Modus. Aber aus welchem Grund auch immer fehlte uns ein Werk von der Gewichtigkeit, wie sie im europäischen Kanon häufig zu finden sind.

Ich besaß keinen Ehrgeiz, diese Lücke zu füllen. Es wäre ein törichtes Unterfangen gewesen, das auch nur zu versuchen. Mein einziger Wunsch war, irgendwie einen angemessenen Ausdruck für das Verlustgefühl zu finden, mit dem solch ein Unheil jene überzog, die dabei ihre Angehörigen verloren. Mein Ziel war, mich so weit wie möglich wegzubewegen von dem lauten, kaltherzigen Geschwätz im Fernsehen. Aber wie ließe sich das musikalisch rahmen, ohne Sensationalismus, ohne wringende Hände? Der Durchbruch kam für mich mit der Idee, die hymnenartigen Akkorde von Charles Ives’ großartigem Werk »The Unanswered Question« in meine Musik einzubetten.

Charles Ives: The Unanswered Question

Ives überlässt diese leise Hymne einem Streichorchester, das durchgehend im dreifachen Pianissimo spielt. Eine einsame Trompete, die wie von einem anderen Planeten zu kommen scheint, stellt wiederholt »die Frage« ­– fünf Noten ohne Text, aber voll numinoser Bedeutung. Ein dissonantes Geschwätz der Holzbläser versucht sich an einer Antwort, versagt aber und gibt auf. Ives legt nahe, dass diese drei Elemente räumlich voneinander getrennt sein sollen, und das nahm ich als Wink, insofern ich mein Publikum mit einer ähnlich gedämpften »Stadtlandschaft« aus Ambient-Klängen über einem feingewebten orchestralen Dunstschleier aus gebrochenen Klangbildern umgab.

In einem Video hatte ich gesehen, wie Millionen von Papieren und Schutt von den Türmen herabschwebten in den Minuten, bevor sie einstürzten, und in seiner gespenstischen Schönheit erinnerte mich das an einen milden Schneesturm. In meinem Stück singt ein Kinderchor die Worte einer Frau, die ihren Mann verlor: »I loved him from the start, I wanted to dig him out, I know just where he is« (Ich liebte ihn von Anfang an, ich wollte ihn ausgraben, ich weiß doch, wo er ist). Die Musik schwillt in einem kurzen Klang-Tsunami an, während der Chor ständig Satzfetzen wiederholt: »Light . . . Sky . . . Day . . .« (Licht… Himmel… Tag….). Dann legt sich das Chaos, und langsam tauchen die Ives-Akkorde auf, wie das Abbild von etwas, das durch dichten Nebel erkennbar wird. Wir hören eine junge Frau sagen »Ich sehe Wasser und Gebäude«. Es sind die Worte einer verzweifelten Stewardess aus einem der Flugzeuge, die auf das World Trade Center zurasten, hier aber werden sie in stiller Zurückhaltung wiedergegeben. Tatsächlich hatte ich meine Teenager-Tochter die Worte lesen lassen und sie aufgenommen.

Das Stück wurde respektvoll aufgenommen, aber ob das Publikum es auf ähnliche Weise erlebte wie eines von Eichlers »intensiv aufgeladenen Klangdenkmälern«, das weiß ich nicht. Was mir im Gedächtnis blieb, sind dankbare, aber auch verwirrte Gesichter von Angehörigen der Opfer, die bei der Aufführung dabei waren. Sie waren es, um die es mir wirklich ging. »Sie haben es nicht verstanden«, sagte ich mir voller Gewissensbisse. Die Kluft zwischen ihren Erfahrungen und den meinen blieb, so sehr ich mich auch darum bemühte, sie zu schließen, unüberbrückbar.

 

Published with the kind permission of »The New Yorker« / Condé Nast

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