Vladimir Jurowski

Interview mit Vladimir Jurowski

»Es kann keine Rechtfertigung für solche Barbarei geben«: Der erfolgreiche Dirigent über seine Heimat Russland, den Ukrainekrieg und über künstlerische Verantwortung.

Als Putin am 24. Februar 2022 die russischen Truppen in der Ukraine einmarschieren ließ, zählte Vladimir Jurowski zu den ersten Künstlern, die sich öffentlich gegen diesen Angriffskrieg positionierten. Zwei Tage danach begann der gebürtige Moskauer seine Konzerte mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, wo er seit 2017 Chefdirigent ist, mit der ukrainischen Nationalhymne. Und auch an seiner anderen Wirkungsstätte, der Bayerischen Staatsoper, der er seit 2021 als Generalmusikdirektor vorsteht, setzte er programmatische Zeichen, etwa mit Prokofjews Oper »Krieg und Frieden«, die auf Tolstois pazifistischem Roman basiert.

In seinem Heimatland Russland wurde der 52-Jährige wegen seiner deutlichen Worte gegen Putins Regime längst zur Persona non grata erklärt, legte seine Arbeit als Künstlerischer Leiter des Staatlichen Akademischen Sinfonieorchesters Russlands nieder. Für sein Konzert mit dem RSB im Rahmen des Internationalen Musikfests Hamburg hat er zum Motto »Krieg und Frieden« ein ganz persönliches Programm zusammengestellt.

Philosophie in Tönen :Vladimir Jurowski im Interview

Interview: Bjørn Woll, April 2024


Wie ist das Programm zu Ihrem Konzert in der Elbphilharmonie im Mai 2024 entstanden?

Am Anfang stand Josef Suks »Fantasie«, das war eine gemeinsame Idee mit dem Geiger Christian Tetzlaff, mit dem ich seit vielen Jahren befreundet bin und mit dem ich bereits viele Werke des gängigen Geigenrepertoires aufgeführt habe. Dann kam zusätzlich die Einladung zum Musikfest – und damit auch das Thema »Krieg und Frieden«. Mir fiel dann gleich ein, dass Suk zu Beginn des Ersten Weltkriegs Variationen über einen altböhmischen Choral geschrieben hat: ein Zeichen gegen die deutschösterreichische Kriegsallianz.

Danach habe ich das sozusagen tschechische Thema weitergedacht – und da kam mir Bohuslav Martinu˚ in den Sinn, der für mich einer der wichtigsten Vertreter der tschechischen Musik des 20. Jahrhunderts ist. Im amerikanischen Exil hat er sein »Mahnmal für Lidice« geschrieben, ein Aufschrei und Schreckensstück als Antwort auf die barbarische Zerstörung des tschechischen Dorfs Lidice durch ein SS-Kommando 1942. Damit fehlte nur noch ein Werk für die zweite Konzerthälfte.


Warum fiel Ihre Wahl dabei auf die 8. Sinfonie von Schostakowitsch?

Das war für mich gar keine Frage: Es musste Schostakowitsch sein und unbedingt die 8. Sinfonie. Denn die ist für mich eine Art absoluter, weil zeitloser Mythos über den Krieg per se. Es geht nicht um irgendeinen konkreten Krieg, um keine konkreten Kriegsaktionen, irgendwelche Schlachten oder sonstige politisch-militärische Ereignisse. Es geht einfach um die Menschen und den Krieg als eine philosophische Gegenüberstellung. In gewisser Hinsicht ist diese Sinfonie ein philosophischer Aufsatz in Tönen, ich kenne kein vergleichbares Stück: Die Achte steht über den Dingen. Sie ist losgelöst von jeglichem aktuellen politischen, ideologischen oder sozialen Kontext, und sie ist tatsächlich in jeglicher Zeit – leider – nach wie vor gültig.

Vladimir Jurowski Vladimir Jurowski © Simon Pauly

»In Schostakowitschs Achter Sinfonie geht es einfach um die Menschen und den Krieg als eine philosophische Gegenüberstellung.«

Ihr Vater Michail war mit Schostakowitsch befreundet und hat als Dirigent mit ihm zusammengearbeitet. Hat das Ihre Sicht auf Schostakowitsch geprägt?

Auf jeden Fall. Ich muss zugeben, dass es Zeiten in meinem Leben gab, in denen ich mich von Schostakowitschs Musik aus eben diesen Gründen eher entfernt habe. Ich wollte mich irgendwie loslösen vom Einfluss meines Vaters, von seiner Überpräsenz in meinem Leben. Und damit ging einher, dass ich einen radikal kritischen Blick auf Schostakowitsch gewann, der in unserem Haus seit meiner Kindheit eine Ikone war. Ich bin meinem Vater aber auch dankbar für die vielen Gespräche, in denen er mir mit der Partitur in der Hand bestimmte Stellen etwa der 8. Sinfonie erklärt hat. Ich habe sie erst verstanden, nachdem ich mit ihm darüber sprach.

Ich glaube, es ist ganz natürlich, dass man sich irgendwann von einem solchen, auch wahnsinnig starken und positiven Einfluss lösen will und dann seine eigene Beziehung mit der entsprechenden Musik aufbaut. Das ist auch genau das, was mein Vater seinerseits sagte: Man darf die großen Werke der Vergangenheit nicht wie Ikonen anbeten, man muss ihre Sprache sprechen lernen und dann einen Dialog auf Augenhöhe mit ihnen führen.
 

Schostakowitsch ist wenige Jahre nach Ihrer Geburt gestorben, Sie haben also vermutlich keine eigenen Erinnerungen an ihn. Hat Ihr Vater Ihnen denn erzählt, was für ein Typ, was für ein Mensch Schostakowitsch war?

Nicht nur mein Vater, sondern auch meine Mutter und meine Großmutter, die den Schostakowitsch ja noch viel früher als mein Vater gekannt hat. Die haben mir sehr viel von ihm berichtet. Ich kannte aber auch viele andere Menschen aus seinem Umfeld. Seine Witwe Irina zum Beispiel, die mehrmals bei Konzerten von mir war, in denen ich seine Werke dirigiert habe. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, dass ich diesen Menschen selbst gekannt habe.

Ich habe außerdem so ein »mystisches« Erlebnis mit der 15. Sinfonie, denn ich war unsichtbarerweise bei der Uraufführung tatsächlich dabei. Meine Mutter saß damals im Großen Saal des Moskauer Konservatoriums neben Schostakowitsch und war bereits schwanger mit mir. Später als Kind und Jugendlicher hörte ich diese Musik dann oft zu Hause auf Platten, die mein Vater spielte.

Vladimir Jurowski dirigiert Schostakowitschs Achte Sinfonie

1990 haben Sie mit Ihrer Familie Russland verlassen und sind nach Deutschland gezogen. Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Zeit in der Sowjetunion als junger Mensch?

Die Zeit ist mir immer noch sehr präsent. Ich habe die ersten 18 Jahre meines Lebens dort verbracht, also die prägenden Jahre. Ich bin sehr behütet aufgewachsen und hatte eine glückliche Kindheit. Dank der Bemühungen meiner Eltern habe ich von der ganzen gesellschaftlichen Misere gar nichts mitbekommen. Als ich dann in die Schule kam, war das für mich die erste Begegnung mit der realen Welt da draußen, das war ein Schock. Später habe ich am Konservatorium in Moskau Musiktheorie studiert, als angehender Musikwissenschaftler. Damals hatte man dort wirklich die bestmögliche Ausbildung, die überhaupt irgendwo zu finden war.
 

Stimmt es, dass Sie zunächst gar nicht nach Deutschland wollten?

Ich wollte tatsächlich nicht. Ich war glücklich mit meiner Ausbildung, wollte dort weiter studieren Außerdem hatte ich das Gefühl, dass ich mich endlich selbst und auch echte Freunde fürs Leben gefunden hatte. Gleichzeitig wurden die gesellschaftlichen Widrigkeiten und Probleme immer größer, es war die Zeit der Perestroika. Die brachte viel Positives, aber auch viel Unsicherheit.

Außerdem hätte mich niemand von der Wehrpflicht erlöst, die kam automatisch mit dem 18. Lebensjahr. Vor allem meine Eltern hatten Angst, dass mir beim Militärdienst etwas zustößt. Denn die Sitten dort waren damals mehr als rau. Und für jemanden, der aus diesen Intelligenzler-Kreisen kam, war der Militärdienst umso schwerer. Zudem lief man Gefahr, in einen der damaligen militärischen Konflikte geschickt zu werden, nach Afghanistan oder in eine der abtrünnigen Republiken, wo in den späten Achtzigerjahren immer mehr Aufstände begannen. Das war durchaus möglich, so wie man heute die jungen Rekruten in die Ukraine als Kanonenfutter schickt.

Vladimir Jurowski Vladimir Jurowski © Julian Baumann

»Solange es möglich war, die Zivilgesellschaft in Russlandaufrechtzuerhalten, eine alternative Gesellschaft mit alternativen Werten, musste man dafür kämpfen.«

Als Russland in der Ukraine einmarschierte, haben Sie sich als einer der ersten russischen Künstler gegen den Angriffskrieg positioniert. Warum war Ihnen das so wichtig?

Wahrscheinlich wegen meiner zehnjährigen aktiven Tätigkeit in Moskau, wo ich als Künstlerischer Leiter des Staatlichen Akademischen Sinfonieorchesters, einem der wahrscheinlich wichtigsten Sinfonieorchester Russlands, eine relativ hohe Position hatte. Ich fühlte mich zwar nicht mitschuldig, aber irgendwie mitverantwortlich für das Ganze. Ich hätte ja die Möglichkeit gehabt, zum Beispiel nach der Annexion der Krim, meine Tätigkeit dort einzustellen. Das habe ich besonders nach dem Abschuss des malaysischen Flugzeugs im Juli 2014 auch wirklich erwogen. Ich war damals schockiert und kurz davor, einen Brief zu schreiben und abzudanken. Ich habe es dann nicht gemacht, weil ich das Gefühl hatte, das Orchester braucht mich. Und auch die Menschen, die in unsere Konzerte kamen, brauchten uns. Das heißt, solange es möglich war, die Zivilgesellschaft dort aufrechtzuerhalten, eine alternative Gesellschaft mit alternativen Werten, musste man dafür kämpfen.


Wie haben Sie das gemacht?

Ich hatte damals tatsächlich eine Carte blanche, mir konnte keiner in die Programme reinreden – und das habe ich zu hundert Prozent zur Weitervermittlung der liberalen und demokratischen Werte verwendet. Aber es begann sich langsam fester und fester zu schrauben, was die Programmgestaltungangeht. Ganz am Ende, da merkte man dann: Die Ideologie gewinnt wieder die Oberhand. Und dennoch gehörte ich zu denjenigen, die bis zum Schluss, die noch einen Tag vor Kriegsbeginn gesagt haben: Ihr werdet sehen, es wird nichts passieren, das ist nur Säbelrasseln. Ich war tatsächlich überzeugt davon.
 

Die Situation war sicher auch für Sie persönlich schwierig, denn Teile Ihrer Familie kommen aus der Ukraine.

Es war ein Schock! Gut die Hälfte meiner Familie stammt aus der Ukraine. Sie gehörten zwar nicht der ukrainischen Nationalität an, aber meine Mutter hat in Kiew studiert und sprach Ukrainisch, genauso wie meine Oma, die 2014 gestorben ist. In meiner Kindheit fuhren wir jedes Jahr nach Kiew, um unsere Verwandten zu besuchen, das war ein Teil meiner Heimat. Dieser Krieg, diese ganze Situation erschien mir so absurd. Wenn wir uns die Umstände im Donbas ansehen, müssen wir aber anerkennen, dass die ukrainischen Regierungen der letzten 30 Jahre auch nicht immer gerecht gehandelt haben, da gab es durchaus eine Diskriminierung der russischen Bevölkerung. Aber das ist kein Grund, einen solchen Krieg anzufangen.

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»Ich denke, dass Kunst die Fähigkeit besitzt, Ereignisse von früher zu transzendieren, sie emotional und philosophisch zu verarbeiten.«

Ihr klares Statement gegen den Krieg blieb für Sie allerdings nicht ohne Folgen, bereuen Sie es?

Es kann keine Rechtfertigung für eine solche Barbarei geben, insofern bereue ich meine emotionale Reaktion von damals überhaupt nicht. Allerdings bedaure ich, dass ich infolge dessen keine Möglichkeit mehr habe, nach Russland zu gehen, um meine Freunde zu sehen und dort Musik zu machen. Obwohl ich unter den aktuellen Umständen dort gar keine Musik machen würde. Selbst wenn 90 Prozent der Menschen, die zu uns ins Konzert kommen, Gleichgesinnte wären, könnten immer noch zehn Prozent Hurra-Patrioten darunter sein. Und mit diesen Menschen will ich im Moment wirklich nichts zu tun haben. Das ist für mich purer Faschismus, was dort betrieben wird. Es erinnert mich fatal an die Dreißigerjahre in Deutschland, wie Andersdenkende heute in Russland verfolgt und diskriminiert werden. Ich würde sagen, die Innenpolitik Putins gegenüber seinen eigenen Mitbürgern ist für mich im Moment ein noch stärkerer Grund, nicht dahin gehen zu wollen, als der Krieg gegen die Ukraine.
 

Ihr klares Statement gegen den Krieg blieb für Sie allerdings nicht ohne Folgen, bereuen Sie es?

Es kann keine Rechtfertigung für eine solche Barbarei geben, insofern bereue ich meine emotionale Reaktion von damals überhaupt nicht. Allerdings bedaure ich, dass ich infolge dessen keine Möglichkeit mehr habe, nach Russland zu gehen, um meine Freunde zu sehen und dort Musik zu machen. Obwohl ich unter den aktuellen Umständen dort gar keine Musik machen würde. Selbst wenn 90 Prozent der Menschen, die zu uns ins Konzert kommen, Gleichgesinnte wären, könnten immer noch zehn Prozent Hurra-Patrioten darunter sein. Und mit diesen Menschen will ich im Moment wirklich nichts zu tun haben. Das ist für mich purer Faschismus, was dort betrieben wird. Es erinnert mich fatal an die Dreißigerjahre in Deutschland, wie Andersdenkende heute in Russland verfolgt und diskriminiert werden. Ich würde sagen, die Innenpolitik Putins gegenüber seinen eigenen Mitbürgern ist für mich im Moment ein noch stärkerer Grund, nicht dahin gehen zu wollen, als der Krieg gegen die Ukraine.


Gerade zu Kriegsbeginn war der Druck auf russische Künstler hoch, sich deutlich gegen den Krieg auszusprechen. Wie erleben Sie das heute?

Der Druck war tatsächlich da. Es sind dabei auch Ungerechtigkeiten passiert, dass etwa Konzerte von Künstlern ohne einen triftigen Grund abgesagt wurden. Auch der Umgang mit dem russischen Repertoire war nicht immer richtig. Sei es in der Musik, im Theater oder der Literatur, wo tatsächlich der Versuch unternommen wurde, einen ganzen Teil der Weltkultur, nämlich die russische Kultur, erst einmal stumm zu schalten. Das ist ja genau das, was Putin will, es rechtfertig seine Handlungen. Gott sei Dank ist das in Deutschland und auch im anderen westlichen Ausland inzwischen anders. Nur Skandinavien ist ein bisschen problematischer, und ganz schwierig sind die an Russland angrenzenden osteuropäischen Länder wie Polen und auch die baltischen Staaten. Aber insgesamt hat sich die Lage doch entspannt, und wir sehen zum Beispiel hier in München an der Bayerischen Staatsoper, dass die Einladung von Künstlern aus Russland, wenn sie nicht eindeutig und nachweisbar mit Putins Regierung in Verbindung stehen, gar kein Problem ist. Nur dass die Menschen nicht direkt reisen können, sie müssen daher über die Türkei oder über die Arabischen Emirate kommen.
 

Was kann Musik, was kann Kunst, was können Sie als Künstler ganz konkret in Zeiten wie diesen überhaupt tun?

Vor einigen Monaten haben wir in Berlin mit dem Rundfunkorchester Beethovens »Missa solemnis« gespielt. Das schien damals eine direkte Antwort auf die Ereignisse in Israel zu sein, wenn im »Dona nobis pacem«, der Bitte um inneren und äußeren Frieden, plötzlich die apokalyptischen Kriegstrompeten ihre Fanfare schmettern. Das ist erschreckend, weil Beethoven vor 200 Jahren etwas erschuf, was heute immer noch eine wahnsinnige Aktualität besitzt. Ich denke, dass richtige Kunst, die hohe Kunst, tatsächlich die Fähigkeit besitzt, Ereignisse von früher zu transzendieren, sie emotional und philosophisch zu verarbeiten – und gleichzeitig auch die Fähigkeit, alle Ereignisse der Zukunft, vor allem die tragischen, voraus sagen zu können. Wenn wir nach irgendeiner Tragödie auf der Welt etwa Bachs »h-Moll-Messe « hören, haben wir das Gefühl, die Musik sei speziell für dieses Ereignis komponiert. Das ist für mich die Kraft dieser transzendierenden Emotion, die in allen großen Kunstwerken zu finden ist.


Dieses Interview erschien im Elbphilharmonie Magazin (2/24).

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