Naghash Ensemble

Der tiefe Brunnen der Geschichte

Streifzüge durch Armeniens uralte Musik im 21. Jahrhundert

Text: Stefan Franzen, 15.4.2024

 

Armeniens Geschichte der letzten hundert Jahre ist wechselvoll und bitter: Seit dem Genozid von 1915 über die lange Ära der UdSSR bis hin zur Auseinandersetzung mit Aserbaidschan und jüngst der Flucht der Bevölkerung aus Bergkarabach ist das Land immer wieder der Willkür anderer Staaten ausgesetzt gewesen. Dem steht der einstige Stolz einer historischen Großmacht gegenüber, deren Territorium sich in der Antike vom Mittelmeer bis zum Kaspischen Meer erstreckte. Bis heute kündet davon eine jahrtausendealte Klangkultur, und aus diesem tiefen Brunnen schöpfen armenische Musikprojekte noch immer. Sowohl in den sakralen als auch in den weltlichen Aspekten zählen die tönenden Schätze der Kaukasusrepublik zu den faszinierendsten der Welt.

Welche Kultur kann schon von sich behaupten, sie wüsste, wie ihre Musik vor 1500 Jahren geklungen hat? Die Beschäftigung damit ist wie eine Zeitreise: Noch vor Rom erhob Armenien bereits im Jahre 301 das Christentum zur Staatsreligion, und es verfügt über eine ungebrochene Kirchenmusiktradition vom Liturgiebegründer Mesrop Maschtoz (etwa 360–440) bis zu den Vertretern des 20. Jahrhunderts, allen voran der Mönch Komitas Vardapet (1869–1935). Er ist der Vater der modernen armenischen Musik, hat die Mehrstimmigkeit in die Kirchenmusik eingeführt, sammelte aber auch Volkslieder, die in Armenien mit der sakralen Musik gemeinsame Wurzeln haben. Sie reichen bis in vorchristliche Zeiten hinab, als noch der Sonnengott Vahagn verehrt wurde.

Tigran Hamasyan »Luys i Luso«
Tigran Hamasyan »Luys i Luso«
Tigran Hamasyan & Yerewan State Chamber Choir: Hayrapetakan Maghterg (Var. 2) vom Album »Luys i Luso«

»Unsere sakralen Klänge sind Musik, die nicht von menschlicher Hand gemacht wurde«, schwärmt der in den USA lebende Jazz-Pianist Tigran Hamasyan. Er ist nicht der Einzige seines Fachs, der dem Bann dieser Klänge erlegen ist. Auch Keith Jarrett, die Bratschistin Kim Kashkashian und das Hilliard Ensemble befassten sich schon mit armenischer Tonkunst. Hamasyan hat in seinem Projekt »Luys i Luso« mit einem Kammerchor die liturgische Musik Armeniens durch fünfzehn Jahrhunderte hindurch ausgekundschaftet. Diese Innenschau setzt sich auch in seinem Solospiel fort. Inspiration erhält er durch Reisen in seine alte Heimat: »Ich schaue aus dem Fenster und sehe den biblischen Berg Ararat mit ewigem Schnee auf dem Gipfel. Strommasten und Leitungsdrähte im Vordergrund zerschneiden das Bild, Satellitenschüsseln verschmelzen mit alten und modernen Häusern. Die altertümliche, gottgegebene Natur und unsere modernen menschlichen Errungenschaften treten in Dialog.«

TRADITION UND TRANSKRIPTION

Spiritualität ist in Armenien nicht nur kirchengebunden. Jeder dort kennt den Namen Georges Gurdjieff. Der Esoteriker griechisch-armenischer Herkunft eröffnete 1922 sein »Institut zur Harmonischen Entwicklung des Menschen« in Fontainebleau bei Paris. Zuvor hatte er auf Reisen durch Armenien, aber auch durch Persien, Tibet, Indien, Griechenland und arabische Länder Musik und Tänze »gesammelt«, ohne sie zu notieren: Er bewahrte sie in seinem akustischen Gedächtnis. Seinem Schüler und Assistenten, dem russischen Pianisten Thomas de Hartmann, sang er später die memorierten Melodien vor – und der transkribierte sie. Bis vor kurzem erklangen sie nur in dieser Form in den Konzertsälen.

Und hier kommt Levon Eskenian, der Leiter des armenischen Gurdjieff Ensembles, ins Spiel. »Als ich das erste Mal die Klavierstücke von Gurdjieff und de Hartmann hörte, fühlte ich mich, als sei ich nach Hause gekommen! Solche Musik habe ich während meiner Kindheit gehört«, erinnert er sich. Mit akribischer Recherche und großem Einfühlungsvermögen führte er die Transkriptionen in eine Besetzung mit traditionellen Instrumenten zurück – so, wie sie Gurdjieff ursprünglich gehört haben könnte. Das Ergebnis ist bezwingend:

Mit den Lang- und Kurzhalslauten Saz, Tar und Oud, mit den Schalmeien Duduk (Armeniens Nationalinstrument) und Zurna, der Stachelgeige Kamantsche, der Schlüsselzither Kanun, verschiedenen Flöten und einer Vielzahl von Schlagwerk gespielt, klingt diese Musik tatsächlich wie aus einer anderen Zeit: erhaben, archaisch und wehmütig. Und Eskenian bestätigt diesen Charakter: »Es gibt etwas sehr Melancholisches unter den Armeniern, einen typischen Zustand des Nachsinnens.«

The Gurdjieff Ensemble
The Gurdjieff Ensemble © Andranik Sahagyan

Die weltliche, bis heute mündlich überlieferte Musik der armenischen Barden, der Aschuk, befindet sich in Gurdjieffs Melodienfundus Seite an Seite mit der sakralen Sphäre. Die Scharakans, melismatische Gesänge aus der Liturgie, und die Taghs, Oden, die sowohl religiöse als auch weltliche Gesänge sein können, kommen aus einer uralten Überlieferungsschicht und wurden dann christianisiert. Eskenian ist es wichtig zu betonen, dass das Gurdjieff Ensemble keine Folkmusik spielt. Die Rückübertragungen von Gurdjieffs Sammlung auf das alte Instrumentarium werden von Musikern ausgeführt, die zwar aus der traditionellen Sphäre kommen, allesamt aber einen Hochschulabschluss in der Tasche haben. Das Quellwasser der alten Musik ist gleichsam zu einem aka demischen Destillat geworden, das freilich nie steril tönt.

MELANCHOLIE UND SCHÖNHEIT

Irgendwo zwischen diesen Polen der weltlichen und sakralen Tradition, der Klassik und des Jazz steht der armenisch-amerikanische Komponist, Dirigent und Pianist John Hodian mit seinem Naghash Ensemble. Die Beschäftigung mit armenischen Klängen sieht er als Lebensaufgabe.

Für mich hat die armenische Kultur – bedingt durch die tragische Geschichte – immer eine etwas unheimliche Melancholie, die zugleich wunderschön ist«, sagt er. Hodian ist an der US-Ostküste aufgewachsen; eine intensive Bindung zum Land seiner Vorfahren hat er erst später aufgebaut. »In Amerika sagt man schon, wenn etwas 200 Jahre alt ist: ›Mein Gott, was für ein Erbe!‹ In Armenien aber sind Traditionen, die bis in vorchristliche Zeit zurückreichen, im Bewusstsein der Leute verankert.« Genau aus dieser Dualität bezieht seine Musik ihre Spannung.

In Deutschland wurde Hodian zunächst durch das Epiphany Project bekannt: Mit der Sängerin Bet Williams bettete er armenische Wurzeln in eine jazzig-folkige Umgebung ein, die auch unverkennbare Elemente des American Folk in sich trug. Danach nahm er ein Großprojekt in Angriff, in dem er seine eigene Musik mit Texten des dichtenden Priesters Mkrtitsch Naghash (1394–1470) verbindet. Den Ausgangsimpuls erhielt er während eines Besuchs in der Heimat seiner Vorfahren: In einem Tempel bei Eriwan hörte er, wie ein Vokalquintett geistliche Musik des Mittelalters sang. Als er sich später in Naghashs Texte versenkte, verknüpften sich in seinem Kopf die Worte mit Musik aus jener Epoche – und er begann Arrangements zu entwerfen, die sich schließlich zu den »Songs of Exile« entwickelten.

Naghash Ensemble: »Songs of Exile«
Naghash Ensemble
Naghash Ensemble Naghash Ensemble © David Galstyan

Hodian gibt augenzwinkernd zu, er habe für die Vertonung der Naghash-Gedichte bei der alten Vokalmusik »gestohlen«. Wer nur leihe, so formulierte es schon Igor Strawinsky, bleibe schwach und oberflächlich; wer dagegen stehle, könne mit der Musik verschmelzen und Neues schaffen. 2010 stellte Hodian ein Ensemble zusammen, um die Musik aus seiner Vorstellung zum Tönen zu bringen. Lange, suitenartige Stücke sind das Resultat, geprägt von einer beglückenden Kombination aus einem weiblichen Vokaltrio und einer dreiköpfigen Instrumentalsektion. Harutyun Chkolyan spielt verschiedene Varianten der Duduk sowie die Flöte Shvi mit seelenvoller Hingabe; Aram Nikogosyan und Tigran Hoyhannisyan lassen virtuos Oud und Dhol-Trommel erklingen. Hodian selbst füllt die musikalische Textur am Klavier mit donnernden Akkorden, repetitiven und fließenden Figuren. Er ist mit seiner grauen Mähne und dem Bart auch physisch eine Schöpfergestalt, gibt wuchtige Einsätze, dirigiert die Dynamik, indem er die Stücke geradezu zu »atmen« scheint, aus dem Moment heraus noch einmal kreiert.

POLYPHONIE UND MELOS

Und dann ist da die sagenhafte Vokalabteilung: Die Sopranistin Hasmik Baghdasaryan besitzt leuchtende, kraftvolle Höhen; die unauffälligere Tatevik Movsesyan klettert souverän zwischen den Registern. Eine Ausnahmeerscheinung in jeder Hinsicht ist Arpine Ter-Petrosyan: Selten hört man einen Alt, der in solch geradezu maskuline Tiefen absteigen kann, dabei immer voll statt mühevoll klingt. Gemeinsam weben die drei eine Polyfonie wie aus einem Guss, ihre a-cappella-Passagen sind von betörend dichtem Melos. Klösterlich-archaischer Klang mischt sich mit den Reibungen der Hochrenaissance und poppig-liedhafter Einfachheit. Hodian hat die Gedichte fast als Gespräch vertont, die Bestandteile der Verse teilen sich spielerisch zwischen den Stimmen auf. Und einen besonders schönen Effekt hat es, wenn der bauchige Klang der Duduk unmerklich mit dem Alt-Register verschmilzt.

Die Sängerinnen des Naghash Ensembles
Die Sängerinnen des Naghash Ensembles. Von links: Hasmik Baghdasaryan, Tatevik Movsesyan, Arpine Ter-Petrosyan © David Galstyan

Zentral für die Poesie des Priesters Mkrtitsch Naghash und für die »Songs of Exile« ist die Figur des Gharib – eines Wanderers, der in der Fremde leben muss. Diese Figur ist auch autobiografisch: In Diyarbakır zog sich Naghash den Zorn der muslimischen Autoritäten zu, indem er sein christliches Kloster so prächtig renovierte, dass es alle Moscheen überstrahlte. Er wurde ganz buchstäblich in die Wüste geschickt und starb dort. Sein Vermächtnis sind fünfzehn lange Gedichte, die von einer unauflöslichen Spannung leben: hier die Dummheit und Gier der Menschen, dort das euphorische Erwarten der göttlichen Sphäre – und dazwischen Ratschläge für ein besseres irdisches Dasein, um die Seele für das Leben nach dem Tod zu rüsten.

Man muss für den Hörgenuss die armenischen Texte zwar nicht verstehen, doch die Übersetzung kann innere Bilder unterstützen: etwa, um ein melancholisches Duduk-Intro besser zu deuten, wenn es um Versäumnisse im irdischen Leben geht. Oder um die einsame Wanderung des Exilanten in einem Sopransolo über dem Oud-Tremolo nachzuvollziehen, und an anderer Stelle die Unruhe, die der Teufel stiftet, in den gehämmerten Begleitfiguren zu erkennen. Am Ende bleibt der Eindruck einer beinahe höfisch-edlen Musik, die nicht distanziert, sondern immer leuchtend und warm wirkt. Und die den geistigen Horizont der uralten armenischen Musik mit einem zeitgenössischem Puls verbindet.

Dieser Artikel erschien im Elbphilharmonie Magazin (2/24).

  • Elbphilharmonie Kleiner Saal
    The Naghash Ensemble

    The Naghash Ensemble Armenia

    »Songs of Exile – Lieder aus der Verbannung« / Internationales Musikfest Hamburg

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